Er schwieg. Als in Amerika die Zahl der Coronatoten von Tag zu Tag alarmierender wurde, war Joe Biden von der Bildfläche verschwunden, einfach untergetaucht. Erst Monate nach dem Ausbruch der Pandemie in den USA meldete sich der 77-Jährige mit einem wöchentlichen Podcast zu Wort. „Es gibt ihn noch!“, ätzte das "New York Magazine“.
Schon Bidens Vorwahlkampf war blutleer. Ein glatter Fehlstart. Sein Wahlkampfslogan damals: „No Malarkey!“ (Kein Quatsch). Das sollte reichen?
Offiziell
Jetzt haben die US-Demokraten Joe Biden offiziell als ihren Kandidaten im Rennen um das Weiße Haus nominiert. Trotz der im Raum stehenden Vorwürfe der sexuellen Belästigung einer ehemaligen Mitarbeiterin sowie des Schutzes seines Sohnes Hunter vor Korruptionsermittlungen in der Ukraine. Der ehemalige Vizepräsident erhielt beim coronabedingten virtuellen Parteitag der Demokraten eine deutliche Mehrheit der mehr als 4000 Delegiertenstimmen.
Der 77-Jährige zieht damit am dritten November gegen den republikanischen Amtsinhaber Donald Trump in die Präsidentschaftswahl. „Es bedeutet die Welt für mich und meine Familie“, sagte Biden nach der Nominierung im Beisein seiner Frau Jill und seiner Enkel, eingerahmt von Luftballons in den US-amerikanischen Nationalfarben. Die Bidens wurden in einer High School in Wilmington gefilmt, wo Jill Biden früher Englisch unterrichtet hat.
Sehnsucht nach den Obama-Jahren
Joe Biden, der Mann aus dem Ostküstenstaat Delaware habe mehr Erfahrung als andere, hieß es im Vorfeld. Der Jurist inszeniert sich als Mann der Arbeiterschaft, als Anwalt der kleinen Leute. Er verkörpert Stabilität und stillt bei einigen auch die Sehnsucht nach den Obama-Jahren. „Im Grunde will Obamas einstiger Stellvertreter den Status quo vor Trumps Amtsübernahme wiederherstellen“, analysiert die „Zeit“.
Schon Anfang des 16. Jahrhunderts stellte der Florentiner Niccolò Machiavelli in seinem Werk „Il Principe“ fest, dass man einen guten Herrscher immer an seinen guten Beratern erkenne. Als Barack Obama 2009 mit Joe Biden das Weiße Haus übernahm, brachte dieser schon mehr als drei Jahrzehnte Erfahrung im US-Senat mit. Als Vizepräsident war Biden immer mehr als nur der loyale Erfüllungsgehilfe seines Chefs. Als Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses im Senat hatte Biden bereits viel internationale Erfahrung gesammelt.
Holpern, stolpern
Seinem großen Traum, selbst Präsident der USA zu werden, kam Biden nur holpernd näher. Zweimal versuchte er sich als Bewerber um das Präsidentenamt für seine demokratische Partei. 1988 war er aus dem Rennen, weil er die Rede des ehemaligen britischen Labour-Vorsitzenden Neil Kinnock kopiert hatte. Später hatte Biden schon bei der ersten Vorwahl gegen Barack Obama keine Chance.
Dabei kam Biden mit seiner Herkunft aus einfachen Verhältnissen und seiner jovialen Art bei den Amerikanern immer gut an. Er wuchs zunächst in Scranton in Pennsylvania auf, einer von Kohle und Schwerindustrie geprägten Stadt, erst später übersiedelte die Familie nach Delaware. Die ständigen Geldsorgen der Eltern und sein Stottern bescherten Biden keine leichte Kindheit. Als Erwachsener wurde er vom Schicksal aber regelrecht gebeutelt.
Als Erwachsener wurde er vom Schicksal aber regelrecht gebeutelt. Seine erste Frau und eine Tochter starben bei einem Autounfall, seine beiden Söhne wurden dabei schwer verletzt. Seinen Amtseid als Senator legte er an den Spitalsbetten seiner Söhne ab. Es sind Bilder, wie sie Amerika nicht vergisst.
Biden ist zum zweiten Mal verheiratet, mit seiner Frau Jill hat er die gemeinsame Tochter Ashley. 2015 verstarb Bidens ältester Sohn Beau an einem Hirntumor im Alter von nur 46 Jahren. „Niemand sollte sich um das Präsidentenamt bewerben, der nicht mit ganzem Herzen und ganzer Seele bei der Sache ist“, sagte er damals. Und Sohn Beau sei seine Seele gewesen.
Gebrochen
„Wie bringt man eine gebrochene Familie wieder zusammen?“, fragte Bidens Frau Jill nun in einer emotionalen Rede auf dem Parteitag der Demokraten und gab selbst die Antwort: „Genauso, wie man eine Nation zusammenbringt: mit Liebe und Verständnis“, erklärte die frühere Second Lady. Vier Tage nach der Beerdigung seines Sohnes Beau habe Biden „sich rasiert, seinen Anzug angezogen“ und sei zurück zu seiner Arbeit als Vizepräsident gegangen. „Manchmal konnte ich mir nicht erklären, wie er es machte – wie er einen Fuß vor den anderen setzte“, schilderte Jill Biden. „Aber ich habe immer verstanden, warum er es machte.“ Es sei ihm stets um das Wohl der US-Bürger gegangen.
Doch deren Forderungen im Jahr 2020 sind nicht gering: Die Polizei ist zu reformieren, das Klima zu retten. Die Hochschulgebühren sind abzuschaffen, die Steuern für Reiche zu erhöhen. Das Gesundheitssystem ist auszubauen, die schwer angeschlagene Wirtschaft wieder aufzubauen. Und dann noch Corona. Mit mittlerweile rund 170.000 Coronatoten hat die Pandemie schon deutlich mehr amerikanische Opfer gefordert als der gesamte Vietnamkrieg.
Es ist nicht weniger als eine Herkulesaufgabe, die Joe Biden, sollte er tatsächlich US-Präsident werden, zu stemmen hätte. Aber zunächst geht es den Demokraten, die nach außen geschlossen wie lange nicht auftreten, vor allem um eines: Donald Trump, der Biden nur „Sleepy Joe“ nennt, aus dem Weißen Haus zu schaffen.