Die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten werden das Ergebnis der umstrittenen Präsidentenwahl in Weißrussland nicht anerkennen. Die Abstimmung sei weder fair noch frei gewesen, erklärte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel nach einem Sondergipfel zur politischen Krise in Minsk. Es gebe keinen Zweifel daran, dass es massive Regelverstöße bei der Wahl gegeben habe, sagte die deutsche CDU-Politikerin nach rund dreistündiger Beratung mit ihren Kollegen. "Wir verurteilen die brutale Gewalt gegen Menschen." Alle Gefangenen müssten bedingungslos freigelassen werden. Zudem setze man sich - wie von der Opposition gefordert - für einen nationalen Dialog ein.
Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) bestätigte, dass die EU das Ergebnis der umstritten Präsidentenwahl nicht anerkennt. "Die Wahlen in Weißrussland waren weder frei noch fair", ließ er über einen Sprecher wissen, "und die Gewalt gegen Demonstranten ist absolut inakzeptabel."
"Wenn es um Rechtsstaat, Demokratie und Menschenrechte geht, darf die EU nicht wegschauen", erklärte der Bundeskanzler weiter, "alle waren wir uns heute auch einig darin, die Gewalt gegen friedliche Demonstranten auf das Schärfste zu verurteilen, die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl nicht anzuerkennen, die Freilassung politischer Gefangener sowie einen politischen Dialog zwischen Lukaschenko und der Opposition zu fordern." In einigen Monaten sollten freie und faire Neuwahlen stattfinden, "so wie es auch das weißrussische Volk fordert", bekräftigte Kurz. "Wir unterstützen den Vorschlag der OSZE, hier für den Dialog tätig zu werden. Auch Russland sollte in diese Bemühungen eingebunden werden."
Sanktionen gegen Minsk
Die EU wird nach Aussage von Ratspräsident Charles Michel zudem in Kürze Sanktionen gegen Weißrussland verhängen. Die Strafmaßnahmen sollten die Personen treffen, die für den Betrug bei der Wahl und das Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Demonstranten verantwortlich seien, sagte Michel nach dem Gipfel. Es handle sich dabei um eine "substanzielle" Zahl an Personen. Die 27 EU-Staats- und Regierungschefs verständigten sich in ihrer Videokonferenz zudem darauf, die Wahl vom vorvergangenen Sonntag nicht anzuerkennen. Dabei reklamierte Amtsinhaber Alexander Lukaschenko den Sieg mit deutlicher Mehrheit für sich. Die Opposition warf ihm daraufhin Wahlbetrug vor. Bei anschließenden Demonstrationen gegen die Regierung gingen die Sicherheitskräfte mit äußerster Härte gegen die Proteste vor, es kam zu zahlreichen Festnahmen.
"Bei den Protesten in Belarus geht es nicht um Geopolitik", sagte der Belgier. In erster Linie handle es sich um eine nationale Krise. Es gehe um das Recht der Menschen, ihre Führung frei zu wählen. An die Weißrussen direkt gewandt, sagte Michel: "Wir stehen an eurer Seite in eurem Wunsch, eure demokratischen Grundrechte auszuüben, und in eurem Wunsch nach einer friedvollen, demokratischen und erfolgreichen Zukunft."
EU will Demokratiebewegung finanziell unterstützen
Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat trotz Warnungen aus Moskau zudem eine finanzielle Unterstützung von Anhängern der Demokratiebewegung angekündigt. Die EU-Kommission werde zwei Millionen Euro für die Opfer von Repression und nicht hinnehmbarer Staatsgewalt bereitstellen, sagte von der Leyen nach dem Sondergipfel. Zudem solle es eine Million Euro zur Unterstützung der Zivilgesellschaft und unabhängiger Medien geben. Es sei nun wichtiger denn je, die Menschen in Weißrussland zu unterstützen und für die Behörden eingeplante EU-Gelder in Richtung der Zivilgesellschaft und schutzbedürftiger Gruppen umzuleiten, erklärte von der Leyen. "Wir stehen an der Seite derjenigen Menschen in Belarus, die Grundfreiheiten und Demokratie wollen."
Weiterer Demonstrant stirbt
Im Zuge der Massenproteste in Weißrussland gegen Staatschef Alexander Lukaschenko hat es unterdessen ein weiteres Todesopfer gegeben. Ein Demonstrant sei am Mittwoch in einem Militärkrankenhaus seinen schweren Verletzungen erlegen, teilte das Gesundheitsministerium in Minsk via Telegram mit. Der Mann war bei einer Demonstration vor einer Woche in der Stadt Brest schwer verletzt worden.
An diesem Tag hatten Sicherheitskräfte nach Angaben des Innenministeriums bei Protesten scharfe Munition eingesetzt. Zunächst seien Warnschüsse abgegeben, dann sei gezielt geschossen worden, hieß es. Dabei sei ein Mensch verletzt worden. Die Tochter des 43-jährigen Mannes sagte dem unabhängigen Portal tut.by, ihr Vater habe eine Schusswunde am Kopf mit schwerem Hirnschaden gehabt.
Bei den seit mehr als einer Woche andauernden Demonstrationen nach der umstrittenen Präsidentenwahl sind bisher mindestens drei Menschen ums Leben gekommen. Bereits am Wochenende nahmen Tausende Menschen bei Trauerfeiern Abschied von zwei Demonstranten.
Anweisung zur Protestbeendigung
Lukaschenko hat einem Medienbericht zufolge das Innenministerium angewiesen, die regierungskritischen Proteste in Minsk zu beenden. Die Geheimdienste sollen weiter nach den Organisatoren der jüngsten Demonstrationen gegen Lukaschenkos umstrittene Wiederwahl suchen, meldete die Nachrichtenagentur Belta. Zudem sei eine Verstärkung des Grenzschutzes angeordnet worden, um ein Einsickern von "Kämpfern und Waffen" zu verhindern. Lukaschenko habe weiter erklärt, dass die in den Streik getretenen Staatsbediensteten nicht an ihre Arbeitsplätze zurückkehren dürften. Die Anordnungen wurden faktisch zeitgleich mit den Beratungen des EU-Sondergipfels bekannt.
Zuvor sagte Lukaschenko laut Belta, dass in Weißrussland keine russischen Streitkräfte zum Schutz der Staatsführung präsent seien. Es gebe ein Problem mit Falschnachrichten und Lügen im Internet, denen zufolge ausländische Streitkräfte und Militärtechnik aus Russland in Weißrussland seien, so der 65-Jährige. Wahrscheinlich sei verwechselt worden, dass sich Streitkräfte seines Landes an die Westgrenze zur EU bewegten, meinte er. "Was ausländische Streitkräfte angeht, so ist da heute kein einziger Mensch aus anderen Staaten in Belarus", sagte er.
Auch der Kreml wies solche Spekulationen aus den sozialen Netzwerken als falsch zurück. "Die russische Militärtechnik befindet sich auf dem Gebiet der Russischen Föderation", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge. Er bestätigte zwar, dass es in den Verträgen mit Weißrussland Verpflichtungen gebe zu gegenseitigem Beistand. "Aber wissen Sie, im Moment gibt es dafür überhaupt keine Notwendigkeit, und entsprechend hat auch die Führung von Weißrussland selbst eingeräumt, dass es keine solche Notwendigkeit gebe."