Manche schreiben Bücher, weil sie eine Botschaft haben, andere schreiben, um zu verstehen, was passiert. Zu welcher Gruppe gehören Sie?
PAULUS HOCHGATTERER: Ich gehöre sicher zu denen, die im Schreiben verstehen wollen. Für mich ist Schreiben etwas, durch das man vielleicht klüger wird und Erkenntnis gewinnt. Es ist eine Möglichkeit, um Dinge, die einem rätselhaft sind, besser verstehen zu können.
Ist das auch ein Ringen mit der Wirklichkeit, ein Reflektieren der Wirklichkeit im Schreiben?
Das ist beinahe ausschließlich ein Ringen. Ich gehöre auch nicht zu jenen, denen die Geschichten und die daraus folgenden Erkenntnisse aus den Fingern rinnen. Ich mühe mich mit jedem Satz ab.
In Ihrem Roman „Das Matratzenhaus“ schreiben Sie: „Österreich ist die freundliche Variante der Bösartigkeit“. Wie das?
Damit meine ich diese kleine Unartigkeit, die kleine Bösartigkeit, die nicht wirklich weh tut. Das hat eine psychohygienische und gesellschaftlich reinigende und stabilisierende Funktion. Das ist etwas Österreich-Spezifisches. Der Mechanismus der kleinen Bösartigkeit verhindert, dass die große Bösartigkeit notwendig wird. Aber vielleicht idealisiere ich.
Zum Hineinhören:
Der bulgarische Politologe Ivan Krastev schreibt in seinem Buch „Ist heute schon morgen?“ über die Folgen Coronakrise: „Die Welt wird eine andere sein, nicht, weil unsere Gesellschaften einen Wandel wollen (...), sondern weil wir einfach nicht mehr zurückkönnen. Ist da etwas dran?
Ich denke, dass die Pandemie für viele Menschen einschneidend sein wird. Ich kann aber dem apokalyptischen Gestus, der diese Pandemie begleitet, nichts abgewinnen. Dem will ich auch keinesfalls folgen.
Warum nicht?
Weil uns in Wahrheit doch alles verändert. Wenn ich mir bloß anschaue, was zuletzt in Beirut passiert ist! Die Explosionskatastrophe verändert das Leben der Menschen dort viel entscheidender, als es Corona tut. Corona führt leider auch dazu, dass über vieles, worüber gesprochen werden sollte, nicht gesprochen wird.
Worüber sollte man sprechen?
Wenn ich einmal von meiner Teilidentität als Kinderpsychiater ausgehe, dann sollte man in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ständig und ununterbrochen über soziale Benachteiligung und Gewalt in der Familie sprechen. Wenn wir uns jetzt alle ständig Gedanken machen, inwiefern Corona Einfluss auf die Kinder hat, sprechen wir über die anderen Probleme nicht oder weniger.
Corona verdeckt Problemfelder?
Natürlich. Wobei man gerechterweise sagen muss, dass die Pandemie Problemfelder auch deutlicher offen legt. Menschen, die immer schon in prekären Verhältnissen gelebt haben oder in Rufweite der Armut, geht es jetzt besonders schlecht, und das wird jetzt auch deutlicher sichtbar.
In „Die Stadt der Blinden“ schreibt José Saramago, dass Epidemien nicht die Gesellschaft verwandeln. Aus seiner Sicht helfen sie aber, die Wahrheit über unsere Gesellschaft zu sehen. Haben Sie etwas dazugelernt?
Über die Menschen, ja. Um mit dem Guten zu beginnen: Ich habe bei der gemeinsamen Arbeit im Spital bemerkt, wie viele kluge Köpfe es gibt, die vor Corona nicht aufgefallen sind. Ich habe dort erfahren, dass es ganz viel Solidarität und Hilfsbereitschaft gibt im konkreten Umgang mit Corona-Infizierten. Und dass es viele Menschen aus allen Berufsgruppen gibt, die bereit sind, sich zu exponieren im Dienst an anderen. Ich habe auch gelernt, dass es eine hohe Bereitschaft zur Zusammenarbeit gibt, die über den Tellerrand der eigenen Sparte hinausreicht. Das ist eine schöne Erfahrung. Was ich aber auch gelernt habe: Dass es im Bereich der Kunst immer schon viele Menschen gab, die wenig hatten und die jetzt gar nichts haben. Die ihre Freunde anpumpen müssen und die kein Licht am Ende des Tunnels sehen.
Entdecken Sie Veränderungen bei den Kindern durch die Pandemie?
Die Kinder sind ja viel anpassungsfähiger als die sogenannten Erwachsenen: Sie tragen Masken, halten Abstand, lassen sich auf Homeschooling ein. Aber natürlich gibt es auch problematische Aspekte. Es gibt Kinder, die sich vor Corona sehr fürchten, weil sie Angst um ihren alten Großvater oder die gebrechliche Großmutter haben. Die Folgen dieser Pandemie sehen wir aber erst in Ansätzen. Dort und da werden die Sekundäreffekte sichtbar – das, was die Coronamaßnahmen bewirkt haben, also etwa die Isolation. Den Anstieg von Gewalt, den es da und dort gibt. Aber was ich für weitaus wichtiger finde, sind die tertiären Effekte, die Langzeiteffekte, die sich niederschlagen im sozioökonomischen Bereich. Familien werden noch weniger Geld haben, arm werden, Eltern werden ihre Arbeit verlieren, und das wird sich am allerdeutlichsten auf die Kinder auswirken.
Stellt die Coronakrise die Menschen nicht unter Dauerstress? Was passiert da mit der Psyche, oder ist der Mensch resilient?
Der Mensch ist an sich ein anpassungsfähiges Wesen. Der Adaptionsaufwand, der durch Social Distancing und Maskenpflicht besteht, bewältigen die Menschen. Das schlägt sich nicht gleich in Symptomen oder Krankheiten nieder. Wenn die Pandemie jetzt aber noch länger andauert und es zu einer zweiten, dritten oder vierten Welle kommt, dann wird’s schwierig. Dann wird das, was Sie Resilienz genannt haben, auch da und dort überfordert werden, fürchte ich. Ich weiß nicht, was dann passieren wird.
Bis gestern lebten wir hier im Westen gern mit dem Rücken zum Tod, durch Corona müssen wir ihm ins Auge sehen. Was macht das mit uns?
Der Tod ist das, was sich in den Coronastatistiken am rechten Rand abspielt. Es schaudert einen, es schaudert mich, wenn man die Todesraten in den USA oder in Brasilien sieht. Und man ist froh, dass es bei uns nicht so schlimm ist. Aber der Tod ist am Ende sowieso unvermeidlich. Ich glaube, es geht aber mehr darum, dass wir alle bis jetzt in einer Blase von vermeintlicher Sicherheit gelebt haben, und plötzlich gibt es so etwas wie Schicksal, Natur oder eine höhere Gewalt tatsächlich. Es findet einfach statt. Da kommt ein Ding und greift in unser aller Leben massiv ein. Da ist ein Ding, das alles verändert, und wir haben es nicht im Griff. Das stellt die Illusion von der Unverwundbarkeit des Menschen im Westen massiv infrage.
Ist die Welt von gestern endgültig vorbei?
Ich denke, ab dem Augenblick, ab dem es eine Impfung gibt, ist die Welt von gestern wieder da. Und wir fühlen uns alle wieder wie Siegfried, der nur eine kleine verwundbare Stelle zwischen den Schulterblättern hat. Wenn uns Menschen etwas eint, dann ist es das: Wir sind alle schwer belehrbar.
Wurde durch die Coronakrise auch ein ökonomisches System durch die Mangel genommen und kamen dadurch auch die Mängel offener zutage?
Ich hoffe sehr, dass die Verwundbarkeit unseres Wirtschaftssystems, das an bestimmten Punkten ja offensichtlich geworden ist, auch einen nachhaltigen Verbesserungseffekt mit sich bringt.
Was wäre, wenn Corona immer wäre?
Die Frage ist provokant, aber auch berechtigt: Dann würden wir uns alle in irgendeiner Form anpassen. Das ist natürlich auch Ausdruck meiner Hoffnung, meiner grundsätzlich optimistischen Haltung. Es würden rationale Mechanismen hoffentlich die Oberhand behalten, und wir würden mit Vernunft herausfinden, in welchem Kontext etwa Masken zu tragen sind, oder wie man selektiv die Menschen schützen kann, die besonders gefährdet sind. Das Coronavirus ist eine enorme Herausforderung, die eine Welt nach dem Zeitalter der Aufklärung aber dennoch bewältigen kann.