Die Amerikaner erzählen sich gern folgenden Witz: „Es gab einmal zwei Buben, die von zu Hause fortliefen und von denen nie wieder jemand hörte: Der eine wurde Seemann, der andere Vizepräsident.“ Die in der US-Verfassung festgelegten Kompetenzen für den „Vice“ sind überschaubar: Eigentlich führt der Vizepräsident nur den Vorsitz des Senats und kann in Abstimmungen, die unentschieden ausgehen, das Tiebreak-Votum abgeben, die entscheidende Stimme. Ansonsten hat er repräsentative Funktionen. Doch von den 44 US-Präsidenten vor Donald Trump sind immerhin 13 zuvor Vizepräsidenten gewesen. Das Amt ist also keine schlechte Ausgangsposition.
Der demokratische US-Präsidentschaftsbewerber Joe Biden hatte bereits im März erklärt, eine Frau zur Vizepräsidentin machen zu wollen, sollte er gewählt werden. Warum eine Frau? Der Wählerinnenanteil wächst seit Jahrzehnten, schon in der vergangenen Wahl gaben zehn Millionen mehr Frauen ihre Stimme ab als Männer. Frauen sind eine wichtige Basis der demokratischen Partei. Von der Basis der Demokraten kam verstärkt der Wunsch, eine nicht-weiße Kandidatin aufzustellen, um in Zeiten von „Black Lives Matter“ ein Zeichen zu setzen.
Mit der 56-jährigen Kamala Harris wird nun erstmals eine Frau Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten. Die erste weibliche Anwärterin für eine der beiden Großparteien ist sie nicht. Geraldine Ferraro war 1984 die erste weibliche Kandidatin für die Vizepräsidentschaft, Demokrat Walter Mondale unterlag allerdings Ronald Reagan und seinem Vize George Bush. Zweite Kandidatin war 2008 Sarah Palin, Gouverneurin aus Alaska, die vom Republikaner John McCain für die Vizepräsidentschaft berufen wurde. Auf Instagram gab Palin Kamala Harris nun auch prompt Ratschläge: „Vertraue keinem Neuen“ und „Lass’ Dich nicht verwirren“, schrieb sie.
Die politische Analystin Amy Walter sagte „Fox News“, Biden erreiche mit seiner Entscheidung für Kamala Harris gleich zwei Ziele. „Zum einen ist es historisch, denn er schlägt zum ersten Mal eine farbige Amerikanerin und eine Frau mit teils indischen Wurzeln vor. Zum anderen geht er auf Nummer sicher.“ Denn die US-Senatorin hat Erfahrung und kennt den politischen Betrieb in Washington.
Heftige Gefechte mit Biden
Kamala Harris hatte sich zunächst selbst für die demokratische Präsidentschaftskandidatur beworben, lieferte sich heftige Gefechte mit Biden, stieg aber aussichtslos aus dem Rennen aus und unterstützte seitdem ihren Kontrahenten.
Die kalifornische Senatorin zählt zum moderaten Flügel der Demokraten, wenngleich Politologen wie Tom Hogen-Esch sagen, aufgrund ihrer Einstellung zu Bürgerrechten, staatlicher Regulierung, Waffengesetzen und Einwanderung tendiere sie eher zum linken Flügel.
Harris ist die Tochter eines aus Jamaika stammenden Stanford-Wirtschaftsprofessors und einer Ärztin aus Indien, einer Koryphäe in der Krebsforschung. Nach ihrem Wirtschafts- und Politikwissenschaftsstudium an der Howard University in Washington D.C. machte Kamala Harris das Doktoratsstudium in Rechtswissenschaften an der University of California und legte eine steile Karriere als Juristin hin. Seit 2017 vertritt sie den Bundesstaat Kalifornien im Senat, von 2011 bis 2017 war sie Generalstaatsanwältin in Kalifornien. Der Treppenwitz der Geschichte: Für ihren damaligen Wahlkampf ums Amt der Generalstaatsanwältin gab es eine Spende in Höhe von 6000 Dollar – von einem Unternehmer namens Donald Trump.
Seit 2014 ist Kamala Harris mit dem Juristen Douglas Emhoff verheiratet, der zwei Kinder mit in die Ehe brachte. „Amerikanische Senatorin. Ehefrau, Momala, Tante. Kämpft immer noch für die Menschen“, steht auf ihrem Twitter-Account.
„Biden wählte mit Harris keinen anderen Biden, sondern einen anderen Obama“, urteilt der britische „Guardian“, „eine Person, die die Zukunft eines Landes von Einwanderern repräsentiert und tief verwurzelt ist in der harten Arbeit, das Unrecht in Amerika zu beheben.“