"Weil es das Jahr 2015 ist“, war die klare Antwort Justin Trudeaus auf die Frage, weshalb er die Hälfte seines Kabinetts mit Frauen besetzt habe. Und er holte auch Ureinwohner und Vertreter der Sikh in die Regierung. „Trudeau hat Kanada wieder cool gemacht“, titelte damals die „New York Times“.
Seit 2015 ist Trudeau Premierminister in Kanada. Bei der Unterhauswahl am 21. Oktober 2019 blieben Trudeaus Liberale zwar auch noch stärkste Kraft, verloren aber ihre absolute Mehrheit. Am 20. November 2019 wurde Trudeaus zweites Kabinett vereidigt.
Den Zug zum Tor hat der mittlerweile 48-jährige Justin Trudeau zweifellos. Das hatte ihm schon Richard Nixon attestiert. „Trinken wir auf den künftigen Premier Kanadas“, hatte der damalige US-Präsident beim Besuch des kanadischen Premiers Pierre Trudeau, Justins Vater, 1972 in Ottawa gesagt. Da war Justin erst ein paar Monate alt. Wie Barack Obama trat auch Justin Trudeau für einen politischen Kulturwandel ein. Doch wie Obama läuft auch Justin Trudeau Gefahr, die Erwartungen zwangsläufig enttäuschen zu müssen, weil es nicht reicht, ein charismatischer Präsident zu sein. Denn auch wenn Kanada zu den wohlhabendsten Ländern der Welt zählt: Die indigene Bevölkerung leidet dort noch immer, der niedrige Ölpreis lässt den Wirtschaftsmotor stottern und die Immobilienpreise in Städten wie Vancouver und Toronto sind obszön hoch. Vom anfänglichen Trudeau-Hype ist nicht mehr viel übrig.
Erster Kratzer
Den ersten massiven Kratzer im Image gab es 2016. Damals flog Kanadas Premier mit seiner Familie in einem Helikopter des Milliardärs Aga Khan auf dessen Privatinsel auf die Bahamas. Dort akzeptierte er zudem auch noch Geschenke von dem Mann, dessen Organisation mehrere hundert Millionen kanadische Dollar an Bundeszuschüssen erhalten hatte. Die Annahme der Geschenke rechtfertigte Trudeau später lapidar damit, dass es Weihnachtszeit gewesen sei und er dem Milliardär schließlich auch einen Pullover geschenkt habe.
Zweiter Kratzer
Im Vorjahr stürzte Trudeau beinahe über die sogenannte SNC-Lavalin-Affäre. Der kanadische Anlagenbauer war wegen Korruptionsvorwürfen ins Visier der Ermittlungsbehörden geraten. Premier Trudeau hatte die zuständige Staatsanwältin persönlich und durch Regierungsangehörige unter Druck gesetzt, einen Deal mit der Firma zu machen, weil sonst kanadische Arbeitsplätze in Gefahr seien. Das fand später eine Ethikkommission heraus. Trudeau habe die Regeln für Interessenskonflikte auf Bundesebene verletzt, war das Urteil der Kommission. Doch Trudeau kam wieder davon.
Dritter Kratzer
Nun droht ihm durch den WE-Charitiy-Skandal die dritte Untersuchung einer Ethik-Kommission seit seinem Amtsantritt. Die Wohltätigkeitsorganisation erhielt im April einen Regierungsauftrag für ein rund 900 Millionen kanadische Dollar schweres Programm für Schüler, die wegen der Corona-Pandemie keine Sommerjobs finden können. Mehr als 40 Millionen davon hätten direkt in den Kassen von WE Charitiy landen können. Soweit ist noch nichts Anstößiges daran zu erkennen.
Problematisch wurde die Angelegenheit allerdings, als bekannt wurde, dass Trudeaus Mutter und Bruder in der Vergangenheit gut bezahlte Reden für die Organisation gehalten hatten. Trudeaus Mutter bekam rund eine Viertelmillion Dollar für knapp 30 Auftritte, Trudeaus Bruder rund 30.000 für acht Vorträge. Außerdem trat Trudeau auch selbst mehrfach bei Veranstaltungen besagter Organisation auf, zudem war seine Frau als Botschafterin für sie tätig. Dennoch zog sich Justin Trudeau nicht aus der Entscheidungsfindung für das Regierungsprogramm zurück: Dadurch könnte er erneut die Regeln für die Verhinderung von Interessenskonflikten gebrochen haben.
In einer Anhörung im kanadischen Parlament wegen der Vergabe eines Staatsauftrags an eine Organisation mit Verbindungen zu seiner Familie wies Justin Trudeau die Vorwürfe nun vehement zurück. Bei seinem Auftritt gestern vor dem Finanzausschuss in Ottawa bestritt Trudeau, selber Einfluss auf die Beauftragung der Wohltätigkeitsorganisation WE Charity genommen zu haben. Trudeau bestritt in der für einen kanadischen Regierungschef ungewöhnlichen Anhörung jeglichen „Interessenskonflikt“ und jegliche „Vorzugsbehandlung“ von WE Charity. Die großen Oppositionsparteien verlangen allerdings immer lauter den Rücktritt des Premiers. Ob Trudeau auch die dritte Untersuchung gegen ihn übersteht, bleibt vorerst abzuwarten.