Auf Facebook in Tunesien war das Selfie sofort ein Hit. Acht junge Männer hocken in ihrem schlanken grünen Holzboot, das durch das glatte Mittelmeer pflügt. Hinten am Außenbordmotor spritzt die Gischt. Vorne hält ein Bärtiger mit Sonnenbrille grinsend ein Kätzchen in die Kamera. Das Tier war ihnen kurz vor der Abfahrt in die Arme gelaufen und reiste nun mit nach Lampedusa, gekuschelt in einen Strohhut. „Sono venuto della Tunisia“ - ich bin aus Tunesien gekommen, schrieb die Gruppe nach ihrer Ankunft auf einen Zettel, den sie der jungen Katze mit ins Körbchen legte, bevor ein Tierarzt sie in Quarantäne nahm.
Im Zeichen von Corona verschieben sich derzeit die Fluchtrouten im Mittelmeer. Neben Libyen rückt seit Anfang Juli immer mehr Tunesien in das Zentrum des Geschehens. Die Entwicklung ist so rasant, dass ItaliensInnenministerin Luciana Lamorgese bei einem Kurzbesuch in Tunis den Verantwortlichen eindringlich ins Gewissen redete. Die Migrationsströme aus dem kleinen Mittelmeeranrainer seien „völlig unkontrolliert“, beklagte die italienische Politikerin und forderte ein härteres Vorgehen.
Täglich steigende Zahlen
Denn die Zahl der Boote, die von Tunesien aus Sizilien, Lampedusa oder das süditalienische Festland erreichen, steigt von Tag zu Tag. Allein im Juli kamen mehr als 5000 der seit Jänner registrierten 12.000 Migranten, dreimal so viele wie im vergangenen Jahr. Knapp die Hälfte von ihnen legte in Tunesien ab, die andere Hälfte in Libyen. Auch die meisten Neuankömmlinge sind inzwischen Tunesier, gefolgt von Bangladesch und Elfenbeinküste. Vorwiegend junge Männer machen sich auf den Seeweg, aber auch ganze Familien. Pro Person kostet die Überfahrt derzeit umgerechnet zwischen 600 und 1100 Euro.
Italien wurde von dem plötzlichen Zustrom der letzten vier Wochen ziemlich überrascht. Auch befürchtet die Bevölkerung neu eingeschleppte Covid-19-Fälle, seit es in drei Aufnahmelagern auf Sizilien zu Massenausbrüchen kam. 300 Tunesier flohen innerhalb von 24 Stunden aus der 14-tägigen Corona-Quarantäne offenbar aus Angst, sofort wieder in ihre Heimat abgeschoben zu werden. Die meisten konnte die Polizei rasch wiederfinden, mehrere Dutzend jedoch blieben verschwunden. Jetzt will Rom zwei größere Fährschiffe vor der Küste Siziliens installieren, von denen niemand mehr so einfach herunterkommt. Im Hafen von Lampedusa protestierten Bürger mit einem Sitzstreik gegen den neuen Ansturm von Migranten.
Sicherheitskräfte können "Phänomen" nicht lösen
Tunesiens Präsident Kais Saied äußerte Verständnis für die italienischen Sorgen, betonte aber, Sicherheitskräfte allein könnten „das Phänomen der illegalen Migration nicht lösen“. Wichtig seien Investitionen in den Herkunftsländern. Innenminister Hichem Mechichi, der als frisch nominierter Regierungschef in den kommenden vier Wochen eine neue Regierung bilden soll, versprach seiner Amtskollegin aus Rom, energischer gegen Schlepperbanden und abfahrende Migrantenboote vorzugehen. Schon jetzt hat Tunesiens Küstenwache alle Hände voll zu tun. Nach Angaben des „Tunesischen Forums für Ökonomische und Soziale Rechte“ (FTDES) verhinderten die Grenzer in der ersten Hälfte 2020 die Abfahrt von 236 Booten mit 4000 Migranten, darunter 2250 Tunesier - viermal so viele wie im Vorjahr. „Die Schleusernetzwerke sind im Laufe der letzten Zeit immer professioneller und internationaler geworden“, kommentierte der tunesische Soziologe Khaled Tababi. Sie verstünden es, die wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten Tunesiens gezielt auszunutzen.
Und so hat der extreme Anstieg der Überfahrten seit Anfang Juli gleich mehrere Gründe. Zum einen bot Italien Anfang Juni wegen des großen Mangels an osteuropäischen Erntehelfern, die wegen Corona wegblieben, allen illegalen Migranten eine sechsmonatige Aufenthaltserlaubnis an, wenn sie in der Landwirtschaft oder als Haushaltshilfen arbeiten. Dies löste in Tunesien einen Sturm auf die Boote aus, obwohl die italienische Regierung sofort klarstellte, dass diese Regelung nicht für Neuankömmlinge gilt. Trotzdem kamen von den 4300 Tunesiern seit Jahresbeginn allein 2800 im Juli.
Instabile Situation
Ein zweiter Grund ist die zunehmend instabile Situation in Tunesien, ausgelöst durch die Covid-19-Pandemie, aber auch durch den turbulenten Rücktritt der Regierung von Premierminister Elyes Fakhfakh. Er war Mitte Juli erst vier Monate im Amt, als die an seiner Regierungskoalition beteiligte konservativ-islamische Ennahda ein Misstrauensvotum beantragte, dem er mit seiner Demission dann zuvorkam. Zudem paart sich die Regierungskrise mit einem beispiellosen Wirtschaftseinbruch. Seit Jahren leidet Tunesien unter einem Reformstau, mangelhafter Arbeitsmoral und einer erstickenden Bürokratie. Nun droht wegen Corona auch noch eine schwere Rezession, der Verlust von weiteren 300.000 Arbeitsplätzen und damit eine Arbeitslosigkeit von über 20 Prozent.
Ebenfalls eine Rolle spielt das Chaos beim Nachbarn Libyen. Zwischen der Türkei auf der einen, sowie Russland, den Emiraten und Ägypten auf der anderen Seite droht ein Stellvertreterkrieg. War Libyen bisher das Haupttransitland für Migranten aus Subsahara-Afrika an die Mittelmeerküste, suchen jetzt immer mehr den Weg über Tunesien.
Denn keine andere Nation in Nordafrika ist näher an Italien. Mit 140 Kilometern ist der Seeweg um die Hälfte kürzer als von Libyen. Von der Landzunge Cap Bon kam man sogar mit dem Jetski nach Sizilien düsen. Für die Überfahrt von der Küste zwischen Nabeul und Sfax nach Lampedusa setzen die Schleuser meist kleinere Fischerboote aus Holz ein, die die italienische Insel in der Regel ohne Hilfe von internationalen Rettungsschiffen erreichen. Allein in der Nacht von Dienstag zu Mittwoch trafen dort 13 Boote aus Tunesien ein - mit 300 Menschen an Bord, darunter eine Mutter mit Baby.
unserem Korrespondenten Martin Gehlen