In der Hagia Sophia in Istanbul ist heute das erste Gebet seit der Rückumwandlung der ursprünglichen Kirche von einem Museum in eine Moschee abgehalten worden. Hunderte Gläubige nahmen an der Zeremonie im Beisein des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan teil.
Begonnen wurde mit Gebetsrufen von den Minaretten der Hagia Sophia. Neben Erdogan waren weitere hochrangige türkische Politiker nach Istanbul gekommen. Erdogan selbst zitierte einige Koranverse.
Vor dem historischen Kuppelbau versammelten sich Tausende Gläubige, einige hatten bereits die Nacht vor der Moschee verbracht. Wegen der Corona-Pandemie durften nicht mehr als tausend Gläubige die Moschee betreten. Die ersten Gläubigen wurden ab 10.00 Uhr türkischer Zeit in das historische Bauwerk gelassen.
Präsident Erdogan saß bereits vor Beginn des eigentlichen Gebets in der Hagia Sophia und hörte der Predigt des Imams zu, wie Aufnahmen der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu zeigten. Erdogan trug zwischenzeitlich eine Atemschutzmaske.
Mehrere Hundert geladene Gäste versammelten sich in der Hagia Sophia. Erdogan und etliche seiner Minister knieten auf blauen Teppichen zu Beginn der Zeremonie, die die Rückgabe des Museums an die muslimischen Gläubigen markierte. Draußen auf dem Sultanahmet-Platz drängten sich Tausende. Viele hatten dort die Nacht im Freien verbracht, um den historischen Moment nicht zu verpassen.
Zu Erdogans Entourage gehörte sein Schwiegersohn Berat Albayrak, der zugleich Finanzminister ist. Er machte wie viele andere Aufnahmen mit seinem Mobiltelefon. Durch das Meisterwerk der byzantinischen Baukunst hallten die Stimmen der in weiße Roben gekleideten Geistlichen, die den Koran rezitierten. Ein Bildnis der Mutter Gottes und Jesu, die auf die betenden Muslime herabgeblickt hätten, war mit weißem Stoff verhängt.
Das Oberhaupt der orthodoxen Kirche Griechenlands sprach anlässlich des ersten muslimischen Gebets seit 1934 in dem Bauwerk von einem Trauertag. "Heute ist ein Tag der Trauer für das gesamte Christentum", sagte Erzbischof Hieronymos. Er bezeichnete die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee einen "unheiligen Akt der Schändung".
Status als Museum aberkannt
Seit das Oberste Verwaltungsgericht der Türkei am 10. Juli der Hagia Sophia den Status eines Museums aberkannte und Staatschef Recep Tayyip Erdogan wenige Stunden später die Umwandlung des Gebäudes in eine Moschee anordnete, war das meistbesuchte Wahrzeichen Istanbuls geschlossen. Am vergangenen Sonntag inspizierte Erdogan die Bauarbeiten, mit denen die Hagia Sophia für ihre neue Rolle als muslimisches Gotteshaus hergerichtet wird. Seine Miene verriet Genugtuung. Auch der Teppichboden dürfte es ihm angetan haben. Türkis ist seine Lieblingsfarbe.
Aber in der Hagia Sophia geht es nicht nur um den Bodenbelag. Die Experten der staatlichen Religionsbehörde Diyanet stehen vor kniffligen Aufgaben. In der einstigen Kirche gibt es zahlreiche Mosaiken. Sie zeigen zum Beispiel Christus, Maria und den Erzengel Gabriel.
Dieser Anblick darf den Gläubigen, die hier nun täglich fünf Pflichtgebete verrichten, keinesfalls zugemutet werden. Zugleich sollen die Mosaiken aber außerhalb der Gebetszeiten für Touristen zu sehen sein. Von Vorhängen ist die Rede und von Laser- oder Lichteffekten, mit denen man die Mosaiken für die muslimischen Gläubigen unsichtbar machen könnte.
Für Erdogan ist die Umwidmung der Hagia Sophia in eine Moschee ein Triumph über seinen großen historischen Rivalen, den Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Er schrieb bei der Ausrufung der Republik im Jahr 1923 die Trennung von Staat und Religion fest.
Erdogan arbeitet seit Jahren daran, das Erbe Atatürks zu demontieren. Auf dem Weg zur „Islamischen Republik Türkei“ ist die Umwandlung der Hagia Sophia zur „Ayasofya Camii“, wie sie jetzt heißt, eine wichtige Station. 537 unter Kaiser Justinian fertiggestellt, war die Basilika mehr als 900 Jahre lang das bedeutendste Gotteshaus der orthodoxen Christenheit und die Krönungskirche der Kaiser von Byzanz. Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen machte Sultan Mehmet II. aus der Kathedrale eine Moschee. 1934 wandelte Atatürk die Hagia Sophia in ein Museum um.
Dass Erdogan das just jetzt revidiert, ist kein Zufall. In jüngsten Umfragen kommt seine Regierungspartei AKP, die vor zehn Jahren bei 50 Prozent Stimmenanteil lag, nur noch auf 30 Prozent. Mit der Umwandlung der Hagia Sophia will Erdogan seine nationalistisch-islamistische Kern-Klientel begeistern.
Im westlichen Ausland wird der Schritt als Affront verstanden. Die EU warnt, die Entscheidung untergrabe „das Bemühen und Dialog und Zusammenarbeit“. Die USA mahnten die Türkei, die „komplexe multi-religiöse Geschichte“ der Hagia Sophia zu respektieren.
Übertragungswagen des Staatsfernsehens sind am Freitag vorgefahren. Tausende versammelten sich vor dem Gebäude, um die Andacht auf Großbildschirmen zu verfolgen – Corona hin oder her.
Erdogans Sprecher Ibrahim Kalin beteuerte, die Fresken, Mosaiken und Ikonen aus der christlichen Ära blieben erhalten.
Aber es gibt auch andere Stimmen. Der Historiker Ebubekir Sofuoglu von der Sakarya-Universität fordert, die Bilder zu zerstören. Es sei den Gläubigen nicht zuzumuten, im Angesicht einer „Hure“ zu beten. Damit meint der Geschichtsprofessor ein Mosaik, das die byzantinische Kaiserin Zoe zeigt, die Tochter von Kaiser Konstantin VIII. Als Herrscherin hatte sie keine Fortune: Sie regierte Byzanz nur drei Monate lang im Frühjahr 1024. Umso größerer Erfolg wird ihr als Liebhaberin nachgesagt.
unserem Korrespondenten Gerd Höhler