Vier Tage und vier Nächte hat der bisher längste EU-Gipfel gedauert. Das war der Verhandlungsmarathon zur EU-Vertragsreform im französischen Nizza im Jahr 2000. Als Ratspräsident Charles Michel am Dienstag in der Früh die Einigung auf das 1,8 Billionen Euro schwere Finanzpaket aus dem Aufbaufonds und dem Budget von 2021 bis 2027 verkündete, fehlten am Ende nur 25 Minuten, um diesen Rekord einzustellen.
"Deal" twitterte der Belgier sichtlich erleichtert. "Es ist ein historischer Tag für Europa", jubelte der französische Präsident Emmanuel Macron etwas später. "Wir haben uns am Schluss zusammengerauft", kommentierte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel trockener. Und Bundeskanzler Sebastian Kurz meinte: "Ich bin mittlerweile etwas müde, aber inhaltlich sehr zufrieden".
Ende gut, alles gut. Der Weg dorthin war lang und steinig gewesen. Nach endlosen Verzögerungen am Sonntag machte die illustre Runde der Staats- und Regierungschefs die Nacht zum Tag und verhandelte schon am Montag bis sechs Uhr in der Früh, ehe die nächste lange Gipfelnacht folgte. Wenig verwunderlich lagen die Nerven blank: Nachdem zuvor schon Viktor Orbán und Mark Rutte aneinandergeraten waren, traf es am Montag Bundeskanzler Sebastian Kurz als Mitglied der "sparsamen Vier": "Seht ihr? Es ist ihm egal. Er hört den anderen nicht zu, hat eine schlechte Haltung. Er kümmert sich um seine Presse und basta", sagte Macron laut einem Bericht von „Politico“, als Kurz zum Telefonieren den Sitzungssaal verließ.
Macron habe demnach auch in starken Worten Kritik am Verhalten der Gruppe der „Sparsamen“ geübt und dieses mit jenem des britischen Premiers David Cameron bei früheren EU-Budgetverhandlungen verglichen. Entsprechend den unterschiedlichen Charakteren der Teilnehmer nahm der Gipfel zuweilen toxische Formen an, stand mehrfach am Rande des Abbruchs, auch durch rauen Ton: Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki sagte zur Änderung beim Wiederaufbaufonds, sie sei „von einer Gruppe geiziger, selbstsüchtiger Länder erzwungen worden“.
Der harte Kurs der Sparsamen war einer der Reibungspunkte. Damit wurde aber unter Beweis gestellt, was sich längst schon abgezeichnet hatte: Die vier bzw. fünf Länder (Österreich, Schweden, Niederlande, Dänemark und als Sympathisant nun auch Finnland) bilden einen neuen Machtfaktor in der EU und können nicht mehr einfach übergangen werden. EU-Diplomaten berichten, dass es während des Gipfels auch immer wieder Versuche gegeben habe, die Gruppe zu spalten – ohne Erfolg, wodurch sich die Vier nur noch bestärkt fühlten und wohl auch weiterhin gemeinsam aktiv sein wollen. Nach dem Abgang der Briten sei es an der Zeit, mehr auf die Stimmen der dynamischen kleineren Mitgliedsländer zu hören und nicht alles den „großen“ zu überlassen, meinte dazu ein Gipfelteilnehmer.
Deutlich höherer Rabatt für Österreich
Ratspräsident Charles Michel, und damit auch Macron und Angela Merkel, hatten sich auf Initiative des Quartetts von 500 Milliarden Zuschüssen auf 390 Milliarden „herunterhandeln“ lassen, bei 360 Milliarden als Krediten (das Gesamtvolumen bleibt also bei 750 Milliarden).
Österreich muss Haftungen in der Höhe von geschätzten 10,53 Milliarden Euro übernehmen. Größte Empfänger werden laut Diplomaten Italien, Spanien und Frankreich sein, Österreich kann mit 3,7 Milliarden Euro rechnen.
Montagabend präsentierte Michel diese und viele weitere Zahlen in einer neuen Verhandlungsbox. In dem Vorschlag und am Ende dann auch im Gipfelbeschluss ist auch ein deutlich höherer Rabatt für Österreich enthalten als davor: 565 Millionen Euro jährlich statt 137 Millionen. „Ich weiß, dass die letzten Schritte immer die schwierigsten sind, aber ich bin zuversichtlich und überzeugt, dass eine Einigung möglich ist“, hatte Michel die Nachtsitzung beim Abendessen eingeleitet, die neuerlich als Open-End-Debatte begann.
Nachlässe auch für Rest der Vierergruppe
Auch für andere Länder der Vierergruppe erhöhte der Belgier die jährlichen Pauschalrabatte: So bekommen die Niederlande in Preisen von 2020 1.921 Millionen Euro (bisher 1.576 Mio.), Schweden 1.069 Millionen Euro (bisher 823 Mio.) und Dänemark 322 Millionen Euro (bisher 222 Mio.).
Die Neuverteilung der Mittel bringt aber auch Änderungen mit sich, die die Länder erst durchrechnen mussten.
Doch nicht nur beim Zahlenwerk und bei einzelnen Rahmenbedingungen bewegte man sich in Richtung Kompromiss, auch beim Thema Rechtsstaatlichkeit einigte man sich auf eine Formel, wie die Auszahlung von EU-Geldern künftig an die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit gekoppelt werden soll.
Für Länder wie Polen und Ungarn, zuletzt auch Slowenien, war die Frage eine Art Joker und für den Gipfel ein großes Streitthema. Charles Michel hatte auch in seinem neuen Kompromisspapier einen Mechanismus vor geschlagen, wonach die Mitgliedsstaaten mit einer qualifizierten Mehrheit die Auszahlung von Geldern stoppen können.Beim Rechtsstaats-Kriterium wurde ein Verweis auf den EU-Vertrag ergänzt und die Rolle der EU-Kommission betont. Entscheidungen im Rat dazu müssten mit einer qualifizierten Mehrheit getroffen werden, hieß es.
In der Nacht erörterten die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán das kontroverse Thema. "Ungarn hat sich bereiterklärt, im Art-7-Verfahren alle notwendigen Schritte zu tun, damit es im Rat zu einer Entscheidung kommen kann", sagte der deutsche Regierungssprecher Steffen Seibert.