Es brodelt in Israel – und zwar nicht mehr nur unter der Oberfläche. Immer mehr Menschen sprechen sich lautstark gegen die neuen Beschränkungen der Regierung wegen der zweiten Welle des Coronavirus aus und kündigen an, sich nicht daran zu halten. Für dieses Wochenende sind Demonstrationen im ganzen Land angekündigt.
Während der ersten Welle gab es für Israel weltweit Lob. Nach einem extremen Lockdown ab März waren die Zahlen der Neuinfektionen im Mai auf unter zehn gesunken.Auch Österreich sah den kleinen Nahoststaat als Vorbild an. Die Regierungschefs beider Länder sprachen über eine gegenseitige Öffnung für den Tourismus. Der Wiederbeginn stand auf dem Plan.
Premier Benjamin Netanjahu vom rechtskonservativen Likud gilt als Vertrauter von Bundeskanzler Sebastian Kurz, israelische Medien schreiben bei den beiden sogar von einer „Bromance“. „Ich muss sagen, dies ist frischer Wind! Dies ist Führung“, sagte Netanjahu einmal bei einem Besuch mit seinem Gast Kurz vor der Klagemauer in Jerusalem.
Im Mai fuhr Israel schnell und umfassend wieder alles hoch: Büros, Schulen, Restaurants, Bars öffneten. Viele Israelis warfen ihre Masken in die Ecke und taten, als hätte es Corona nie gegeben. Doch der Übermut währte nicht lang. Im Juni schnellten die Zahlen der Neuinfektionen wieder nach oben. Mittlerweile werden täglich nahezu 2000 Neuinfektionen gemeldet. Damit sind auch die Einschränkungen zurück.
Seit gestern sind Sportstudios und Schwimmbäder geschlossen, Restaurants dürfen ab Dienstag nur noch Take-away anbieten. Zudem soll es einen generellen Lockdown an den Wochenenden geben. Da wächst die Kritik.
Viele Restaurantbesitzer belassen es nicht nur bei Worten. Sie kündigten an, trotz der verordneten Schließungen weiterhin Gäste bedienen zu wollen. Tomer Mor, Vorsitzender der Organisation Vereinte Restaurantbesitzer sagt, „die Luft im Land kocht“. Die kapriziösen Entscheidungen der Regierung würden aus gesetzestreuen Bürgern jetzt Kriminelle machen.
"Unsere Läden bleiben offen"
Die Kette R2M, die Kaffee-Bars und Delikatessen-Läden betreibt, kündigte an: „Unsere Läden bleiben offen“. Hunderte schlossen sich an und ließen ihre Namen auf eine öffentliche Liste setzen. Schlomi Salomon, Eigentümer des Lokals „Amore Mio“ in Tel Aviv, will einen Hungerstreik beginnen. „Ich kann nicht ständig Produkte für Zehntausende Schekel in den Abfall werfen und dazu die 85 Leute, die ich anstelle.“
Andere sehen nicht nur die Eindämmung des Coronavirus als Grund für die Beschränkungen. Michal Yuval Or vom Lokal Tanti Bacchi in Tivon ist überzeugt: „Es ist unglaublich, dass sich Netanjahu das erlaubt. Nur, um Demonstrationen gegen ihn am Wochenende zu stoppen“.
Die waren am Samstag zuvor in Tel Aviv auf Zehntausende Menschen angewachsen. Arbeitslose, Selbstständige und Kleinunternehmer demonstrierten für mehr Unterstützung vom Staat. Bei den Demos in Jerusalem einige Tage darauf ging es um Politik. Tausende forderten, dass Netanjahu, der wegen Korruption angeklagt ist, zurücktritt. 50 Demonstranten wurden festgenommen.
Indes rumort es sogar innerhalb des Likud. Gideon Saar, der einst Netanjahu als Parteivorsitzender herausgefordert hatte, findet es schwer, „ein logisches Prinzip in diesen Entscheidungen zu finden. Sie werden den wirtschaftlichen Schaden vergrößern und nicht einmal den gewünschten Effekt erzielen“. Seine Parteikollegin Michal Schir schrieb einen offenen Brief: „Ein Premier sollte Kritik annehmen können ohne alle, die sie äußern, als ,Linke' abzustempeln.“
Dem Premier, der zuletzt ankündigte, jedem Bürger Geld überweisen zu wollen „um die Wirtschaft anzukurbeln“, trauen laut Umfrage nur noch 29 Prozent zu, mit der Coronakrise fertig zu werden. Den Leiter der Budget-Abteilung im Finanzministerium, Schaul Meridor, erinnert die geplante Geld-Verteilung an eine der populistischen Aktionen Venezuelas: „Vertrauen wird über lange Zeit aufgebaut, aber zerstört wird es über Nacht“.