In endlosen Reihen winden sich die Steine über die kleine Anhöhe des Friedhofs von Potocari: Auch 25 Jahre nach dem Bosnienkrieg (1992-1995) werden im ostbosnischen Srebrenica noch immer die Toten des Massakers beerdigt.
„8372...“ erinnert ein Gedenkstein an die bestatteten und noch vermissten Opfer des größten Massenmords der Jugoslawienkriege. Als am 11. Juli 1995 bosnisch-serbische Truppen unter General Ratko Mladic nach zweijähriger Belagerung in die eigentlich unter dem Schutz der UN stehende Muslimenenklave einmarschierten, gaben die überforderten Blauhelme des niederländischen „Dutchbat“-Bataillon das von Flüchtlingen überfüllte Srebrenica kampflos preis.
Exekutiert und verscharrt
Nur Frauen und Kinder durften die Stadt in Bus-Konvois verlassen. Ihre älteren Söhne, ihre Brüder, Männer und Väter blieben zurück. Bei Massenexekutionen in den umliegenden Wäldern wurden in den folgenden Tagen Jugendliche und Greise exekutiert, verscharrt.
Sein Großvater, sein Onkel und fast alle seiner Klassenkameraden seien damals ermordet worden, berichtet im „Srebrenica Memorial Center“ der heute 45-jährige Direktor Emir Suljagic. Als „letzter Nichtserbe“ habe er am 21. Juli als Übersetzer des UN-Bataillons die Enklave gemeinsam mit den Blauhelmen verlassen: „Ich hatte Glück zu überleben.“
Längst zählt Srebrenica mehr Gräber als Menschen. In Poticari sind mittlerweile die DNA-identifizierten Überreste von 6643 Opfern beerdigt. Die Gesamtbevölkerung der Kommune ist seit Anfang der 90er-Jahre von 37.000 auf 4000 gesunken, die Einwohnerzahl in der Stadt selbst von einst 10.000 auf unter 1000 geschrumpft.
Einschusslöcher an Fassaden sind noch da
Nicht nur die Einschusslöcher in den Fassaden erinnern an die Schrecken des Krieges. Die Folgen der 90er-Jahre seien überall spürbar, sagt Avdo Purkovic, der Wirt der „Pension Mirsilije“. Waren nach der Jahrtausendwende vertriebene Muslime wieder zurückgekehrt, würden nun muslimische Bosniaken den Ort genauso wie Serben verlassen: „Die Jungen ziehen weg, weil sie keine Jobs haben, nach Sarajevo, Belgrad oder gleich in den Westen.“ Was bleibe, sei das „Gefühl der Leere.“
16 Jahre war Camil Durakovic, als er vor 25 Jahren den Todesschergen auf einem tagelangen Fußmarsch durch die Wälder entkam. Jedes Jahr würden die Angehörigen der Opfer am Jahrestag die „drei Phasen ihrer Trauer“ erneut durchleben, sagt Srebrenicas früherer Bürgermeister: „Zuerst 1995, als wir erfuhren, dass unsere Angehörigen ermordet wurden. Dann, als wir vom DNA-Zentrum in Tuzla die Nachricht erhielten, dass deren Überreste identifiziert waren. Und zuletzt trauerten wir, als wir sie endlich auf demFriedhof von Poticari beerdigen konnten.“
Abkommen von Dayton
Das Friedensabkommen von Dayton besiegelte im November 1995 das Ende des Bosnienkriegs. Und es löste in den Wäldern von Srebrenica hektische Grabungsarbeiten aus. Um den Genozid zu vertuschen, ließ die bosnisch-serbische Armee die Massengräber ausbaggern und die halbverwesten Leichen, von denen Gliedmaßen abfielen, in kleinen Gruben verscharren. Diese Umbettung erschwert bis heute die Identifizierung noch vermisster Opfer. Oft warten die Familien mit der Bestattung, bis zumindest der Großteil des Skeletts gefunden worden ist.
Wegen der Corona-Epidemie wird die Gedenkfeier heuer mit virtuellen Grußbotschaften von 30 Staats- und Regierungschefs und mit weniger Bestattungen über die Bühne gehen: Manche Familien haben die Beerdigungen verschoben, weil die Verwandten aus dem Ausland nicht anreisen können
Doch auch 25 Jahre nach dem Massaker ist Srebenica von Aussöhnung weit entfernt. Ausgerechnet vor dem Jahrestag des Massakers hat die serbisch dominierte Stadtverwaltung Poster von Serbiens Präsident Aleksandar Vucic als Dank für Finanzhilfen aus Belgrad plakatieren lassen.
Der frühere Bürgermeister Camil Durakovic seufzt: Viele seiner serbischen Bekannten würden zwar privat einräumen, dass in Srebrenica Völkermord begangen worden sei, aber öffentlich würden sie das nie zu sagen wagen. Der Krieg sei vorbei, doch „den Frieden haben wir noch immer nicht erreicht“.