Die Frau in dem rosa T-Shirt weint, der ältere Mann mit weißem Haar, der sie gebracht hat, hebt rasch ihre Habseligkeiten aus dem Kofferraum seines Mercedes und fährt davon. Für die Frauen auf dem Bürgersteig vor dem äthiopischen Generalkonsulat in Beirut, die die Neue tröstend in den Arm nehmen, ein gewohntes Bild. Sie alle teilen das gleiche Schicksal und hoffen nun auf einen Repatriierungsflug nach Addis Abeba. „Ich weiß nicht, was sich diese Leute denken“, ruft erregt eine junge Äthiopierin in die Kamera. „Ich bin doch kein Müll, den man einfach so wegwerfen kann.“
Einst gepriesen als „die Schweiz des Orients“ steckt der Libanon in der schlimmsten Staatskrise seit Ende des Bürgerkrieges 1990. Die Währung befindet sich im freien Fall. Gehälter, Pensionen und Ersparnisse haben seit vergangenem Oktober 85 Prozent ihrer Kaufkraft verloren. Die Arbeitslosigkeit steigt genauso wie die Kriminalität. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt mittlerweile in Armut, in der Mittelklasse macht sich Verzweiflung breit. Quer durch das Land lassen sich Menschen vor ihren leeren Kühlschränken fotografieren. Auf Tauschbörsen im Internet bieten Mütter Kleider und Schmuck gegen Babywindeln oder Milchpulver. Die Angst vor einer Hungersnot geht um, weil fast alle Lebensmittel importiert werden müssen.
Kollaps den Bankensystems
Und wie immer trifft die Misere zuerst die Schwächsten – die 1,5 Millionen syrischen Flüchtlinge und die 180.000 ausländischen Haushaltshilfen, die überwiegend aus Äthiopien oder von den Philippinen stammen. Das so genannte Kafala-System macht die Frauen völlig rechtlos. Ihre Pässe müssen sie abgeben. Die Löhne sind gering, die Arbeitszeiten endlos. Seit das Corona-Virus grassiert und der Libanon in den Bankrott taumelt, versuchen hunderte libanesische Familien, ihre ausländischen Angestellten loszuwerden, setzen sie einfach auf die Straße und überlassen sie ihrem Schicksal.
Ausgelöst wurde die Megakrise durch den Kollaps des Bankensektors, über den die politischen und wirtschaftlichen Eliten jahrzehntelang ihre eigene Nation ausplünderten. Staatsanleihen finanzierte die Libanesische Zentralbank über die 65 örtlichen Privatbanken, die dafür exorbitante Zinsen kassierten. Dieses Schneeballsystem machte einheimische Finanz-Oligarchen reich und lockte einen ständigen Strom ausländischer Devisen an. Heute gehört der Libanon mit 170 Prozent des Bruttosozialprodukts zu den Rekordschuldnern des Globus, was einer Summe von 92 Milliarden Dollar entspricht. Als der toxische Devisenzufluss im letzten Herbst plötzlich versiegte, brach das finanzielle Kartenhaus zusammen. Im März konnte der Libanon zum ersten Mal in seiner Geschichte eine Staatsanleihe nicht mehr zurückzahlen. Sämtliche Konten sind seither blockiert, Bankkunden kommen kaum noch an ihre Devisen. Experten schätzen, dass sich mehr als 80 Prozent der privaten Dollarguthaben in Luft aufgelöst haben.
Der IWF soll einspringen
Jetzt soll der Internationale Währungsfonds dem Land mit einem zehn Milliarden Dollar Kredit beispringen. Dessen Sanierungsexperten verlangen harte Einschnitte, vor allem, dass die 930 Großprofiteure den Löwenanteil der Bankenverluste tragen und nicht die 2,7 Millionen normalen Sparer. „Die Gespräche sind schwierig“, erklärte IMF-ChefinKristalina Georgieva. Die beiden libanesischen Chefunterhändler mit dem IWF traten mittlerweile zurück. Es gebe „keinen echten Willen, Reformen durchzusetzen und den Bankensektor zu restrukturieren, einschließlich der Zentralbank“, erklärte Henri Chaoul zur Begründung. Sein Kollege Alain Bifani warf dem heimischen Kartell aus politischen und wirtschaftlichen Führern vor, die geplanten Reformen der Regierung zu torpedieren und nur ihre eigenen Interessen im Auge zu haben. Wenn das so weitergehe, werde der Libanon „in einem Strudel aus Armut und Arbeitslosigkeit“ versinken, sagte Bifani.
"Klima von Bürgerkrieg"
Präsident Michel Aoun rief vor einigen Wochen die politische Elite zu einem nationalen Krisentreffen zusammen. Gleich mehrere frühere Premierminister boykottierten die Runde und sprachen von Zeitverschwendung, darunter auch der im Oktober 2019 unter dem Druck von Massenprotesten zurückgetretene Saad al-Hariri. Über dem Land liege ein „Klima von Bürgerkrieg“ orakelte der Staatschef nach diesem Debakel. So sieht das auch der Generalmanager des Hotel Bristol, was siebzig Jahre lang zu den Wahrzeichen Beiruts gehörte und selbst während des Bürgerkrieges von 1975 bis 1990 stets geöffnet war. Jetzt schließt er die Fünf-Sterne-Herberge, „weil wir keine Hoffnung mehr haben auf eine bessere Zukunft”.
unserem Korrespondenten Martin Gehlen