1. Wieso kommt es auf den Straßen Wiens zu Zusammenstößen türkischer Jugendlicher?
Bei einer genehmigten Demonstration eines kurdischen Frauenvereins, bei der eine Serie von Frauenmorden in der Türkei angeprangert wurde, sowie bei linken Protestkundgebung wurden die Teilnehmer von rechtsextremen jungen Männern angegriffen, die teilweise den „Grauen Wölfen“ zugeordnet werden. Den verwendeten Symbolen zufolge sind einige Teilnehmer auch dem islamistischen Spektrum zuzuordnen, wie Thomas Rammerstorfer erklärt, der sich mit dem türkischen Extremismus in Österreich befasst.
2. Warum sind die Spannungen gerade jetzt so eskaliert?
Der Konflikt zwischen beiden Gruppen ist laut Rammerstorfer ein permanenter, der sich meist unterhalb unserer Wahrnehmungsschwelle abspiele. Übergriffe durch „Graue Wölfe“ etwa durch Schlägereien sowie eine massive Hetze gegen kurdisch- oder armenisch-stämmige Menschen oder Christen gebe es immer wieder. Manche setzen diese Hetze in Gewalttaten um. „Natürlich verteidigen sich die Angegriffenen dann, auch nicht immer mit milden Mitteln, aber die Aggression geht schon meist von der faschistischen Seite aus“, so Rammerstorfer.
3. Wer sind die „Grauen Wölfe“ in Wien?
Im Grunde orientiert sich die rechtsextreme Ideologie der türkischen „Wölfe“ sehr stark am europäischen Faschismus, auch an Nazi-Deutschland, und sie inkludiert die üblichen Elemente: Antisemitismus, Minderheitenfeindlichkeit, Rassismus, Nationalismus, Sexismus. „In den letzten Jahren hat man sich aus taktischen Überlegungen aber auch dem politischen Islam ein Stück weit angenähert, weil man sich dort Unterstützung erhofft“, so Rammerstorfer. Das ist in der Türkei auch ganz offiziell: Dort sitzt die rechtsextreme Partei MHP als Juniorpartner mit Erdogans konservativ-islamischer AKP gemeinsam am Regierungstisch. Das macht es für türkische Jugendliche in Österreich schwieriger, die „Wölfe“ als extremistische Randgruppe zu erkennen.
4. Ist das ein aus der Türkei importierter Konflikt oder doch eher ein Integrationsproblem?
In der Türkei und angrenzenden Ländern geht Erdogan massiv gegen die Kurden vor, weil er die Entstehung eines eigenen Kurdenstaates befürchtet. Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die Türkei tragen seit den 1980er-Jahren einen offenen Konflikt aus. Dieser spiegelt sich in Wien. „Durch die relativ schlechte Integration türkischer Jugendlicher wird dieser Konflikt hierzulande befeuert“, so Rammerstorfer. Unter türkeistämmigen Jugendlichen gebe es viele mit Ausgrenzungserfahrung. „Wenn diese in ihrem Leben immer wieder hören, sie seien schlechte Menschen, weil sie Türken sind, dann gehen sie halt gerne zu denen, die ihnen sagen: Du bist ein toller Mensch, weil du ein Türke bist“. Die Mehrzahl der betroffenen Jugendlichen sei in Österreich geboren – doch die Türkei übe starken Einfluss auf sie aus: „Wir haben hierzulande eine Unzahl von türkischen Sendern und Social Media Projekten. Die meisten davon stehen unter Kontrolle konservativer bis offen faschistischer Organisationen“. Zugleich, wie Rammerstorfer betont, handelt es sich bei den radikalisierten Gruppen um eine Minderheit innerhalb der türkischen Community in Österreich. Er schätzt den Anteil der Sympathisanten der „Grauen Wölfe“ auf zehn Prozent. „Bei rund 400.000 türkei-stämmigen Personen sind das trotzdem nicht wenige.“
5. Ist das alles nur ein Problem der Wiener?
Ähnliche Strukturen gibt es auch in anderen Bundesländern – wenngleich weniger in der Steiermark und Kärnten – und auch in Ländern wie Deutschland oder der Schweiz.
6. Welche Rolle spielt die Türkei dabei?
Rammerstorfer geht davon aus, dass es Geldflüsse von der Türkei zu den rechtsradikalen Gruppen gibt, auch wenn sich das im Moment nicht beweisen lasse. Es gebe auch entsprechende Strukturen von türkischen Banken oder Unternehmen in Österreich, über die man so ein Sponsoring problemlos vornehmen könne.
7. Wie lässt sich das Problem lösen?
„Man verschläft das Thema hierzulande seit Jahrzehnten“, meint der Experte. „Sehr oft schielen auch die österreichischen Parteien verschiedenster Couleur auf die Wählerstimmen aus diesem Milieu, anstatt mit den Leuten ein ernstes Wort zu reden oder Deradikalisierungsmaßnahmen in Schulen einzuleiten.“
8. Müssen wir uns jetzt häufiger auf Randale in den Städten einstellen?
Meist eskalieren die Konflikte hierzulande, wenn es in der Türkei, dem Irak oder Syrien zu militärischen Konflikten zwischen der türkischen Armee und kurdischen Gruppen kommt. Der jetzige Gewaltausbruch in Wien kam unerwartet: „Da könnten Faktoren wie die höhere Arbeitslosigkeit hineinspielen – es ist leichter, Jugendliche, die nichts zu tun haben, zusammenzutrommeln“. Im jetzigen Fall konnte die Polizei die Lage erfolgreich beruhigen. Dennoch bleibt das Eskalationspotenzial latent bestehen.