Aus Protest gegen das Verhalten des britischen Regierungsberaters Dominic Cummings in der Coronakrise ist Staatssekretär Douglas Ross zurückgetreten. Cummings' Interpretation der Ausgangsbeschränkungen "können die meisten Menschen, die die Regeln der Regierung befolgen, nicht nachvollziehen", schrieb Ross am Dienstag an Premierminister Boris Johnson. In britischen Medien wird über weitere Rücktritte spekuliert.

"Ich habe Wähler, die sich nicht von ihren Liebsten verabschieden konnten, Familien, die nicht zusammen trauern konnten, Menschen, die nicht ihre kranken Verwandten besuchten, weil sie die Regeln der Regierung befolgten", erklärte Douglas Ross, der Staatssekretär für Schottland. Er könne doch nicht allen sagen, sie würden falsch liegen und Cummings richtig.

Ein Bild aus besseren Tagen: Johnson und der nun zurückgetretene Staatssekretär Douglas Ross
Ein Bild aus besseren Tagen: Johnson und der nun zurückgetretene Staatssekretär Douglas Ross © AFP

Cummings hatte am Montag Vorwürfe, er habe Ausgangsbeschränkungen mit einer Reise zu seinen Eltern ignoriert, zurückgewiesen. Er bedaure sein Verhalten nicht und habe auch nie einen Rücktritt in Erwägung gezogen.

Regeln der Regierung missachtet

Der Chefberater hatte als Grund für die Reise Ende März nach Durham im Nordosten Englands angegeben, dass er so die Betreuung seines kleinen Sohnes sicherstellen wollte: Seine Frau sei an Covid-19 erkrankt gewesen und er selbst habe mit einer Ansteckung gerechnet.

Auf große Empörung stieß in Großbritannien, dass er von dort zu einem etwa 50 Kilometer entfernten Schloss gefahren war, um nach eigenen Angaben seine Sehkraft nach der überstandenen Infektion zu testen. Der Vorfall war durch eine Anzeige ans Licht gekommen. Ein pensionierter Lehrer hatte Cummings bei der Polizei gemeldet. Zur Verdeutlichung: Vor dem Osterwochenende waren die Briten explizit dazu aufgerufen worden, trotz des guten Wetters die Lockdown-Regeln nicht zu brechen und keine Reisen zu Touristenorten oder in ihre Zeitwohnsitze zu unternehmen. 

Es gebe große Bedenken beim staatlichen britischen Gesundheitsdienst NHS, dass Cummings' Äußerungen das Vertrauen in die Regierung und in Maßnahmen zur Pandemie-Eindämmung schwächen könnten, sagte Niall Dickson von der Dachorganisation NHS Confederation.

Augenscheinlich sei es durch die Affäre Cummings geworden, dass es ein Recht für die einfachen Leute gebe und ein anderes für Privilegierte, donnerte die Opposition. Ein Verhaltensforscher an der schottischen St.-Andrews-Universität sprach sogar von einer „katastrophalen Untergrabung aller Anstrengungen“, die Infektion zu bekämpfen. 

Polit-Krise

Der Skandal um Cummings entwickelt sich mehr und mehr zu einer politischen Krise und bringt Premierminister Boris Johnson in die Bredouille. Am Montagabend betonte Johnson erneut bei einer Pressekonferenz, was er schon am Vorabend gesagt hatte: Sein Berater habe "verantwortungsvoll, legal und mit Integrität" gehandelt. Er stehe weiter zu Cummings und halte dessen Erklärungen für plausibel.

Die britische Bevölkerung ist fassungslos.

Cummings hat maßgeblich zum Aufstieg Johnsons beigetragen und genießt seitdem dessen Vertrauen. Vom Wahlkampfexperten stammt der berühmte Slogan: "Get Brexit done", mit dem Johnson bekanntlich großen Erfolg hatte. Cummings ist der Mann, auf den der britische Premier nicht verzichten will.

Nach dem Studium in Oxford hielt sich Cummings für drei Jahre von 1994 bis 1997 in Russland auf und versuchte unter anderem, eine Fluggesellschaft aufzubauen, die Samara, Russlands sechstgrößte Stadt, mit Wien verbinden sollte. Cummings spricht fließend Russisch.

Im Zuge des EU-Mitgliedschaftsreferendums im Vereinigten Königreich 2016 leitete Cummings den Wahlkampf für die Kampagne Vote Leave, die sich für den Brexit einsetzte. Er war dabei unter anderem für einen roten Bus verantwortlich, auf den er den Satz „We send the EU £350 million a week – let’s fund our NHS instead“ hatte schreiben lassen. Die Aussage war zwar falsch, hatte nach Ansicht der Polit-Experten dennoch bedeutenden Einfluss auf das Ergebnis der Brexit-Abstimmung.

Der frühere britische Premierminister David Cameron warnte eindringlich vor Cummings, denn dieser sei ein "Karrierepsychopath".

Wichtige Unterstützer

Die britische Politologin Melanie Sully erklärt sich Johnsons Festhalten an seinem Chefberater Dominic Cummings auch damit, dass Cummings "wichtige Unterstützer im Kabinett hat", wie zum Beispiel Vize-Premierminister Michael Gove.

Die britische Politologin Melanie Sully leitet das Go-Governance-Institut in Wien

"Offenbar hat Johnson auch gedacht die Story wird einfach so vorübergehen", sagt Sully. "Diese Woche gibt es kein Plenum im Parlament. Johnson hat gedacht, außer Journalisten wird sich niemand dafür interessieren. Das war ein großer Denkfehler. Es ist ein Schlag ins Gesicht für viele, die auf einen Besuch bei Verwandten verzichtet haben. Viele erzählen, dass sie nur Verwandte besucht haben, als sie diese begraben mussten. Die Krise hat tiefe Narben hinterlassen. Johnson schätzt Cummings und Cummings weiß sehr viel. Er wird als ,loose cannon', als tickende Zeitbombe, gesehen, so jemanden will man nicht haben außerhalb des Teams", erklärt die britische Politologin.

Die „Daily Mail“ titelte am Montag zu Bildern von Johnson und Cummings: „Auf welchem Planeten leben die eigentlich?“

"Wenn ausgerechnet die ,Daily Mail' so etwas schreibt, hätten bei Johnson die Alarmglocken läuten müssen. Die ,Daily Mail" ist Tory-treu, durch und durch", erklärt die Politologin.

Auf die Frage, ob sich Johnson in der Coronakrise selbst entzaubert habe, sagt Sully zur Kleinen Zeitung: "Seine eigene Corona-Erkrankung hat ihm einige Sympathiewerte gegeben. Aber es ist jetzt klar, dass der Lockdown zu spät war. Die Todesrate in Großbritannien ist viel zu hoch und die Wirtschaft ist langfristig am Boden. Es wird noch eine Corona-Untersuchung geben. Derzeit sind aber viele eher damit beschäftigt, irgendwie über die Runden zu kommen." Große Wahlen, wie in den Hauptstädten und die Londoner Bürgermeisterwahl seien ohnehin auf das Frühjahr 2021 verschoben worden, aber, schränkt Sully ein, "die Tories sind nicht bekannt dafür sehr sanft zu sein, wenn der Obmann oder die Obfrau ständig Fehler macht."