Erst die Cholera-Epidemie, jetzt die Corona-Seuche – dem Jemen droht die Apokalypse. Die Zahl der Covid-19-Toten steigt rasant. Ende April meldeten die Behörden die ersten fünf Erkrankten in Aden. Zwei Wochen später bereits waren in der Hafenstadt über 600 Menschen an der Lungenseuche gestorben, darunter ein Vizeminister, wie der Chef des Zivilschutzes, Sanad Jamil, bekannt gab. Nach seinen Worten grassiert das Virus „in rasendem Tempo“ unter der Bevölkerung, die durch fünf Jahre Krieg, Hunger, Obdachlosigkeit und andere Infektionen extrem geschwächt ist. Schon die weltweit größte Cholera-Epidemie mit bisher 2,3 Millionen Infizierten forderte 4000 Tote. Bei Corona befürchten die Vereinten Nationen nun 40.000 Tote. 16 der 29 Millionen Jemeniten könnten sich mit dem tödlichen Virus anstecken. Das sei das „wahrscheinlichste Szenario”, warnte Lisa Grande, UN-Nothilfe-Koordinatorin für den Jemen.
Patienten werden abgewiesen
Testkits gibt es kaum. Die wenigen noch intakten Krankenhäuser weigern sich, Infizierte aufzunehmen, weil das Personal keinerlei Schutzkleidung hat oder aus Angst nicht mehr zur Arbeit erscheint. In ganz Jemen gibt es 208 Beatmungsgeräte, in Aden manchmal nur zwei Stunden Strom pro Tag. „Unsere Mitarbeiter vor Ort wurden Zeuge, wie Patienten, die nur noch mit Mühe Luft bekamen oder sogar kollabierten, abgewiesen wurden“, berichtete Mohammed Alshamaa, der örtliche Direktor von „Save the Children“. „Man kann die Angst in den Gesichtern sehen, nicht nur bei den Ärzten, auch bei dem Management-Personal.“ Vor einer Woche wurde Aden zum Katastrophengebiet erklärt. „Die Lage ist zum Verzweifeln“, twitterte ein Bewohner.
In den Armenvierteln bedeutet eine Erkrankung den Tod
Derzeit kämen mehr Tote auf den Friedhof als zu den blutigsten Phasen des Bürgerkrieges, zitierte AP einen Totengräber. Nach Angaben von Adens Zivilschutzbehörde, die alle Bestattungen autorisiert, ist deren Zahl von rund zehn pro Tag jetzt auf über 50 hochgeschnellt und steigt weiter. Allein am 13. Mai wurden 70 Genehmigungen erteilt, 65 von der Polizei beantragt für Tote, die auf der Straße lagen. Denn das Virus wütet vor allem in den Armenvierteln. Wer hier erkrankt, dem ist bei einem schweren Verlauf der Lungenseuche der Tod sicher. Zusätzlich wurden auch aus dem Hadramaut und den Städten Taif und Ibb Covid-19-Fälle gemeldet.
Im Norden mit der Hauptstadt Sanaa dagegen verhängten die vom Iran unterstützten Houthis eine Corona-Nachrichtensperre, auch gegenüber der WHO, um die Bevölkerung und vor allem die eigenen Truppen nicht zu beunruhigen. Klinikpersonal, Journalisten oder Familien von Betroffenen werden eingeschüchtert, damit nichts über die wirkliche Lage nach außen dringt.
Saudi-Arabiens Fiasko
Saudi-Arabiens Kriegsherr Mohammed bin Salman aber steht nach fünf Jahren Krieg vor den Trümmern seines verheerenden Jemen-Abenteuers, das bisher mehr als 100.000 Menschen das Leben kostete, Unsummen verschlang und nach dem Urteil der Vereinten Nationen das „größte humanitäre Desaster der Gegenwart“ anrichtete. Alle Gesprächskontakte mit den Houthis verliefen bisher im Sande. Auf sein Angebot einer Feuerpause bis zum Ende des Ramadan bekam der Thronfolger nicht einmal eine Antwort. Der von Riad protegierte 74-jährige Präsident Abed Rabbo Mansour Hadi ringt nach einem Herzinfarkt in einer saudischen Klinik mit dem Tod.
Separatisten rufen Autonomie aus
Währenddessen forderte Saudi-Arabien alle Mitglieder der jemenitischen Exilregierung auf, das Königreich zu verlassen. Sämtliche Unterhaltszahlungen würden Ende Mai eingestellt, hieß es in der Mitteilung – ein erstes indirektes Eingeständnis, dass die gesamte Kriegsexpedition gescheitert ist. Denn auch die Anti-Houthi-Koalition zerfleischt sich inzwischen in Kämpfen zwischen den Resten der Hadi-Armee und dem Südlichen Übergangsrat (STC), der Ende April den Südjemen für unabhängig erklärte. In den letzten Tagen tobte die Schlacht um das 60 Kilometer von Aden entfernte Zinjibar, Hauptstadt der Provinz Abyan, aus der Präsident Hadi stammt. Doch der Ansturm seiner Regierungstruppen gegen die STC-Rebellen scheiterte, mindestens 14 Kämpfer starben.
Martin Gehlen