Seit Wochen häuften sich nächtliche Überfälle, Sprengfallen, Entführungen, falsche Straßensperren und Selbstmordattentate. Gut ein Jahr nach der Kapitulation ihres „Kalifates“ sind die Jihadisten des IS wieder auf dem Vormarsch, auch wenn sie in Irak und Syrien kein festes Territorium mehr kontrollieren. Stattdessen nutzen sie die globale Corona-Krise, um ihren Guerillakrieg massiv auszuweiten. Ihre Kommandos agieren vor allem in den sunnitischen Provinzen im Norden und Westen des Irak, im Osten Syriens sowie in den schwer zugänglichen Wüstenregionen entlang der 600 Kilometer langen irakisch-syrischen Grenze. Mehr als 430 Anschläge gingen seit Beginn des Jahres auf ihr Konto, im Vergleich zu Jänner liegt deren Zahl im Corona-Monat April bereits doppelt so hoch. Allein in Bagdad explodierten Anfang der Woche simultan fünf Sprengsätze.
Denn große Teile der irakischen Sicherheitskräfte sind abgelenkt, weil mit der Überwachung der Pandemie-Ausgangssperre beschäftigt. Viele Polizisten und Soldaten erscheinen aus Angst vor Infektionen nicht mehr zum Dienst. Zum anderen haben die US-Antiterror-Einheiten im Irak im Konflikt um ihre Stationierung die Zahl der Stützpunkte und Ausbilder sowie die Luftaufklärung stark reduziert. Dieses doppelte Sicherheitsvakuum spielt den Extremisten jetzt in die Hände.
Serienangriffe
Im Irak richten sich die IS-Serienangriffe gegen Soldaten und Polizisten, kurdische Peshmerga, schiitische Milizen und Bewaffnete lokaler Stämme. Sechs Überlandleitungen im Nordosten des Landes wurden zerstört, so dass Hunderttausende ohne Strom sind. Kürzlich attackierte ein Selbstmordattentäter sogar die irakische Antiterror-Zentrale in Kirkuk. „IS-Elemente treiben sich innerhalb und außerhalb von Kirkuk herum, die Stadt befindet sich in unmittelbarer Gefahr“, erklärte Idris Rifaat, Chef des kurdischen Inlandsgeheimdienstes Asayish in Kirkuk. Neu sei, dass sich der IS mittlerweile stark genug fühle, größere und komplexere Attentate in Städten zu verüben, erläuterte Nicholas Heras vom „Institute for the Study of War“. Auch in Ballungsgebieten verfüge der IS wieder über genügend lokale Netzwerke, „die es ihm erlauben, zuzuschlagen, wann er will, zunehmend auch, wo er will, und mit größerer Gewalt“.
Der Druck dieser neuen Terrorwelle ist mittlerweile so hoch, dass selbst pro-iranische Politiker in Bagdad nicht mehr strikt an dem Parlamentsbeschluss vom Jänner festhalten wollen, der den Abzug aller ausländischen Truppen forderte. Sunniten und Kurden sind sowieso strikt dagegen, dass die 5200 US-Soldaten nach Hause fahren. Aber auch im schiitischen Lager gibt es Bewegung, und kann man sich mittlerweile eine reduzierte Präsenz der Amerikaner vorstellen. Anfang Juni will die neue irakische Regierung unter Premier Mustafa Al-Kadhimi mit Washington über die künftige Zusammenarbeit verhandeln. Denn die irakischen Spezialkräfte alleine werden mit dem IS nicht fertig. Sie sind auf die US-Aufklärung genauso angewiesen wie auf die amerikanischen Drohnen und Kampfhubschrauber.
Covid-19 als Gelegenheit
Mit Blick auf Syrien warnte UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet derweil vor einer „tickenden Zeitbombe“. Verschiedene Konfliktparteien, darunter der „Islamische Staat”, betrachteten offenbar die Covid-19 Pandemie als Gelegenheit, sich neu zu gruppieren, erklärte sie. Seit Monaten operieren die Gotteskrieger praktisch unbehelligt in der Badiya-Wüste östlich von Homs und westlich von Deir Ezzor, die zum Machtbereich von Bashar al-Assad gehört. Schwer bewaffnete IS-Konvois, deren Kriegsgerät offenbar teilweise aus Armeebeständen des Regimes stammt, paradieren durch die dünn besiedelten Regionen. Letzte Woche starben sieben Assad-Soldaten, als ihr Bus in einen Hinterhalt geriet. Einen Monat zuvor verloren in dem Gasförder-Städtchen Sukhna 32 Soldaten ihr Leben. Die Gefechte mit den IS-Angreifern dauerten zwei Tage.
In ländlichen Gebieten gebe es mittlerweile hunderte, wenn nicht tausende von Verstecken, alle ausgestattet mit Kommunikationstechnik, Sprit, Generatoren, Sprengstoffvorräten und Bombenwerkzeug, erläuterte Michael Knights vom „Washington Institute“. „Das ist das Rückgrat dieser Erhebung.” Verständlicherweise konzentriere sich die Welt derzeit darauf, mit der Pandemie fertigzuwerden, warnte kürzlich die „International Crisis Group“, die Analysen für internationale Konflikte erarbeitet. „Trotzdem sollten die Länder Vorkehrungen treffen, um sich vor den Gefahren zu wappnen, die von dem IS ausgehen.“
unserem Korrespondenten Martin Gehlen