Wer sind die großen Gewinner und Verlierer in der Coronakrise? „Einzig China könnte gestärkt hervorgehen“, sagt Politologe Gerhard Mangott im Interview. Die Pandemie stellt die Welt vor eine epochale Veränderung.
In welchem Sinne kann man von einer tief greifenden Veränderung der Welt sprechen?
Gerhard Mangott: Die Pandemie verstärkt Entwicklungen, die es schon vor dem Ausbruch gab: Das Absinken der US-Führungsleistung durch eine isolationistische und unilaterale Außenpolitik ist jetzt noch deutlicher. Die USA haben angesichts der desaströsen Regierung die Pandemie im Land nicht im Griff, und auch nach außen haben sie keine Antwort. Im Gegenteil: Die Zahlungen an die WHO haben sie eingestellt. Die Supermacht hat erheblich an Soft Power verloren. Dieser Eindruck bleibt von den USA.
Sind die USA also die großen Verlierer dieser Krise?
Mangott: Sie sind schon Verlierer, ob sie große Verlierer werden, hängt aber davon ab, wie sich andere Akteure entwickeln. Da denkt man natürlich vor allem an die China. Die Volksrepublik versucht in das Führungsvakuum, das die USA hinterlassen, vorzustoßen. Einerseits verschickt China weltweit Hilfslieferungen mit Schutzmaterial, andererseits bleibt die Tatsache, dass das Virus aus China stammt und die Anfänge der Pandemie von der chinesischen Führung verschleiert wurden. Hätte die WHO von China anfangs wahrheitsgetreue Daten bekommen, hätten sich andere Staaten darauf vorbereiten können, und es wäre gar nicht zu dieser Verbreitung des Virus gekommen.
Wen sehen Sie noch als großen Verlierer?
Mangott: Die EU. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat Führungsleistung vermissen lassen. Auch die EU-Agentur ECDC, das Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten, hat versagt. Es wurde nicht genug auf die nationalen Regierungen eingewirkt, um Vorsichtsmaßnahmen einzuleiten. Als es dann ernst wurde, haben die EU-Staaten Alleingänge unternommen, ihre Grenzen geschlossen, ohne sich zu koordinieren, was angesichts des Binnenmarkts des Schengenraums notwendig gewesen wäre. Frankreich und Deutschland haben einen Exportstopp von Schutzmasken und -kleidung verhängt. Und kein Staat der EU reagierte Ende Februar, als in Italien die Covid-Krise voll ausbrach. Das alles zeigt, wie stark sich Staaten in solchen Krisen nur auf sich selbst verlassen. Das hat den europäischen Integrationsprozess nachhaltig beschädigt.
Wer hat noch zu kämpfen?
Mangott: Internationale Organisationen wie die WHO oder der Internationale Währungsfonds, den die USA immer noch dominieren. Wie der IWF mit den Schulden der Staaten des Südens umgehen wird und wie hohe Hilfskredite er vergibt, ist noch unklar. Auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist in dieser Krise völlig handlungsunfähig geblieben. Ein bedauerliches Zeugnis für ein internationales Gremium, das für Sicherheit zuständig ist.
Welche Schlüsse kann man daraus ziehen?
Mangott: Die große Frage wird sein: Kommt es zu einer partiellen De-Globalisierung? Zu einer Wiederentdeckung nationaler Souveränität? Zu Autarkie in bestimmten Bereichen und zu isolationistischen Positionen? Oder kommt es mit den Erfahrungen aus dieser Krise zu einer Wiedergeburt des multilateralen Denkens? Möglich ist es, Hoffnung wäre auch angebracht. Allerdings: Wenn sich die Beziehung zwischen den USA und China weiter verschärft, ist internationale Kooperation nur bedingt möglich, denn wenn sich die beiden Staaten in internationalen Organisationen polarisierend gegenüberstehen, geht kaum etwas.
Wie sieht es mit Russland aus?
Mangott: Die Russen sind die größten Verlierer. Sechs Wochen gab es einen Lockdown, und die Infektionszahlen steigen dennoch. Das staatliche Gesundheitssystem ist auf eine solche Krise überhaupt nicht vorbereitet. Russland hat in den letzten 20, 30 Jahren nicht in das Gesundheitssystem investiert. Jetzt rächt sich das. Es ist für eine angebliche Großmacht beschämend, wenn man feststellen muss, dass auf dem Land 40 Prozent der Krankenhäuser nicht einmal Fließwasser haben. Und das sind keine Zahlen, die von russophoben Organisationen geteilt werden, sondern staatliche Statistiken. Russland ist aber nicht nur hart von der Pandemie betroffen, sondern auch wirtschaftlich am Boden, wegen des Preisverfalls seines Hauptexportguts Öl. Man rechnet heuer mit einer Rezession von zehn Prozent und mit einem Budgetdefizit von sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Gibt es Gewinner in der Krise?
Mangott: Einzig China könnte gestärkt aus dieser Krise hervorgehen. Wenn es seine internationale Rolle als Helfer stärker wahrnimmt und endlich damit aufhört, diese zu eigenen Gunsten auszunutzen. China muss aufhören, gegenüber der EU wie ein arroganter Akteur aufzutreten, der zensiert und droht. Wenn China diesen politischen Nationalismus nicht in den Griff bekommt, wird nichts mit der Krise als Chance.
Was ist mit den sogenannten Schwellenländern?
Brasilien und Südafrika haben schwer zu kämpfen, in Indien ist die Bilanz noch nicht gezogen. Schwer getroffen werden die sogenannten Länder der Dritten Welt: Es gibt mehr als 80 Ansuchen beim IWF um Finanzhilfe, weil diese Staaten mit dieser Krise sowohl gesundheitlich als auch wirtschaftlich nicht fertig werden. Es wird ohne dramatische Schuldenerlässe nicht gehen.
IWF-Chefin Kristalina Georgieva sieht durch die Coronakrise die „dunkelste Stunde der Menschheit“ gekommen. Was sagen Sie?
Mangott: Das halte ich für völlig überzogen. Man kann sich an die dunkelsten Stunden der Menschheit im 20. Jahrhundert erinnern: an den Zweiten Weltkrieg und an den Holocaust. So weit sollte man beim Coronavirus nicht gehen. Wobei wir bei der Pandemie freilich erst am Anfang sind.