Per Videokonferenz statt im kroatischen Zagreb wird heute die Westbalkankonferenz abgehalten: Die Beratungen der EU mit ihren Beitrittsanwärtern stehen im Zeichen der Viruskrise. Zwar hat sich der EU-Wartesaal im Kampf gegen die Ausbreitung der Pandemie dank sehr rigider Präventivmaßnahmen weit besser als vorab befürchtet geschlagen.
Doch die Folgen der Coronakrise werden den Westbalkan hart treffen: Alle Staaten müssen mit satten Einbrüchen rechnen. Mit dem grünen Licht für Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien hat Brüssel ein demonstratives, aber spätes Zeichen für den Erweiterungsprozess gesetzt.
Autoritäre Tendenzen, Emigration, Vergreisung und der Mangel an Perspektiven machen der Region zu schaffen. Auch wenn die EU nun weitere Corona-Hilfen auf den Weg bringt, hat sie in ihrem vernachlässigten Vorhof durch ihre widersprüchliche Politik und das erlahmte Interesse an Einfluss und Glaubwürdigkeit verloren. China, Russland, die Türkei, Ungarn und die USA machen sich das Machtvakuum zunutze.
Serbien: Autoritärer Drahtseilakt
Serbien dürfte dank des starken Agrar- und Nahrungsmittelsektors mit einem Minuswachstum von drei Prozent relativ glimpflich aus der Viruskrise kommen. Bei den 2014 begonnenen Beitrittsverhandlungen hat Belgrad 18 von 35 Kapitel eröffnet, zwei abgeschlossen. Nicht nur wegen des festgefahrenen Dialogs mit Kosovo bleibt der größte Beitrittsanwärter der unsicherste Wackelkandidat. Ähnlich wie Jugoslawiens früherer Vormann Tito versucht sich Präsident Vucic im Drahtseilakt zwischen Ost und West: Doch er droht bei Lobeshymnen auf autoritäre Vorbilder die Balance zu verlieren.
Kosovo: Das Armenhaus Europas
Europas Armenhaus tritt politisch auf der Stelle. Noch immer blockiert Serbien den seit 2008 unabhängigen Staatsneuling mithilfe Russlands nach Kräften: Der von der EU erfolglos moderierte Dialog mit Belgrad ist völlig festgefahren. Die kurze Aufbruchsstimmung ist wieder der Dauerkrise gewichen. Mitten in der Viruskrise forcierten die USA im März zum Ärger der EU den Sturz des nur noch geschäftsführenden Premiers Albin Kurti. Ob per Koalitionswechsel oder Neuwahlen: Klare Mehrheiten scheinen nicht in Sicht. Zwar ist seit 2016 ein Assoziierungsabkommen mit der EU in Kraft. Doch von einem Beitritt scheint Kosovo Lichtjahre entfernt.
Bosnien-Herzegowina: In der Selbstblockade
Wie der ganzen Region machen dem Vielvölkerstaat die Heimkehr von im Westen arbeitslos gewordenen Gastarbeitern und rückläufige Geldtransfers der Diaspora zu schaffen. Zwar hat auch Sarajevo 2015 ein Assoziierungsabkommen über die Bühne gebracht. Doch von einem EU-Beitritt ist Bosnien ähnlich weit wie Kosovo entfernt. Das zerrissene Land blockiert sich selbst: Das in Dayton geschmiedete Staatslabyrinth hat sich als kaum regierbar erwiesen. Bosniens Politbarone zeigen sich zur Kooperation kaum bereit, stattdessen halten sie für den Machterhalt ethnische Vorbehalte am Köcheln.
Albanien: Abhängig vom Tourismus
Vor allem wegen der Abhängigkeit vom Tourismus dürften Albanien die Folgen der Viruskrise hart treffen. Zwar ist der Adriastaat seit 2009 Mitglied der Nato und erhielt 2014 den Status eines Beitrittskandidaten. Doch erst im März haben die EU-Partner Tirana grünes Licht für die Beitrittsverhandlungen erteilt: Mit der Mitgliedschaft kann Albanien wohl erst in den 30er Jahren rechnen. Nicht nur der große Entwicklungsrückstand, sondern auch der zweifelhafte Aufstieg zu Europas größtem Cannabisproduzenten lassen das „Kolumbien Europas“ bei vielen Altmitgliedern der EU auf Skepsis stoßen.
Nordmazedonien: Hoffnung auf Neuanfang
Ein Minuswachstum von vier Prozent erwartet der IWF in Nordmazedonien. Zumindest bei der anvisierten Westannäherung waren dem Vielvölkerstaat nach Jahren der Rückschläge und Enttäuschungen ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Viruskrise zwei Etappenerfolge vergönnt. Drei Tage nach dem grünen Licht aus Brüssel für den EU-Beitrittsmarathon wurde Nordmazedonien am 27. März das 30. Mitglied der Nato. Doch ob Nordmazedonien zur erhofften EU-Erfolgsstory wird, wird sich wohl erst nach der geplanten Neuwahl zeigen.
Montenegro: Ringen mit der Unterwelt
Ein Minuswachstum von sogar neun Prozent prognostiziert der IWF für Montenegro. Der kleinste Anwärter ist im Kandidatenfeld zumindest formal am weitesten gediehen. Bei den 2012 begonnen Beitrittsverhandlungen hat Podgorica 32 von 33 Kapitel eröffnet, allerdings erst drei abgeschlossen. Zwar ist der Euro schon seit 2002 in Montenegro offizielles Zahlungsmittel. Doch der von blutigem Unterwelt-Abrechnungen erschütterte Küstenstaat scheint vor allem beim sehr laxen Kampf gegen die Organisierte Kriminalität alles andere als beitrittsreif.