Zunächst waren es Einzelstimmen wie der russische Karrierediplomat Alexander Aksenyonok. Kürzlich aber ging erstmals auch die populäre Medienplattform RIA FAN, die dem Oligarchen und Putin-Freund Jewgeni Prigozhin gehört, in mehreren Artikeln offen auf Distanz zu dem syrischen Diktator Bashar al-Assad, auch wenn das meiste später wieder gelöscht wurde.
Assad sei „schwach“ und „unfähig“, die grassierende Korruption in Syrien zu stoppen und das Land wieder auf die Beine zu bringen, lautete die Kritik. Dazu gestellt wurde eine Umfrage der russischen „Stiftung für den Schutz traditioneller Werte“ unter 1000 Syrern in den Regime-Gebieten, nach der nur noch 31,4 Prozent ihren Machthaber Assad positiv sehen und bei der Präsidentenwahl 2021 wählen würden. 71,3 Prozent nannten die Korruption das größte Problem des Landes, 78,6 Prozent halten Reformen für dringend erforderlich. 70,2 Prozent stimmten der Aussage zu, Syrien brauche „das Auftreten von neuen starken Politikern“. Und nur 30,5 Prozent hielten es für nötig, dass die syrische Armee sämtliche Teile des Landes zurückerobert.
Teurer Einsatz
Auch wenn es Zweifel gibt, ob diese telefonische Meinungsumfrage zwischen dem 31. März und 12. April tatsächlich so stattgefunden hat, ihre neunseitige Hochglanz-Präsentation in einem Putin-nahen Medium könnte Indiz dafür sein, dass auch im Kreml die Frustration über das Regime in Damaskus wächst. Der Einsatz in Syrien verschlingt Unsummen. Und wie es vor Ort mit dem korrupten Assad-Clan an der Macht weiter gehen soll, wird für Moskau immer unkalkulierbarer. Das Land liegt total am Boden, 80 Prozent der Bevölkerung lebt in Armut, die durchschnittliche Lebenserwartung ist um 20 Jahre gesunken. Die Corona-Seuche könnte der geschundenen Nation nun den Rest geben. Und so fürchten Teile der russischen Führung offenbar, nach dem Ende des Virus-Desasters allein auf dem syrischen Bürgerkriegschaos sitzen zu bleiben, während die übrige Welt auf Jahre mit der Reanimation ihrer demolierten Volkswirtschaften beschäftigt ist.
Teurer Freund
Zusätzlich fallen die Preise für Rohöl derzeit ins Bodenlose, dessen Erlöse zuletzt 40 bis 50 Prozent des russischen Staatshaushaltes ausmachten. Im laufenden Jahr rechnet Moskaus Finanzminister bereits mit einem Loch von 39 Milliarden Dollar. Auch das beflügelt Spekulationen, Wladimir Putin könnte demnächst genug haben von seinem teuren syrischen Kriegsfreund und Ausschau halten nach einer Alternative, die Assad bis zur Präsidentenwahl im kommenden Jahr ersetzen könnte.
Der ehemalige Botschafter Alexander Aksenyonok, der fließend Arabisch spricht und bereits unter Assads Vater Hafez al-Assad an der russischen Vertretung in Syrien tätig war, führt gleich ein ganzes Bündel an Kritikpunkten ins Feld. Sein Artikel erschien nicht nur in der relativ Kreml-kritischen Zeitung „Kommersant“, sondern auch als englische Publikation beim „Russian International Affairs Council“ (RIAC), zu dessen Vorstand unter anderem Russlands Außenminister Sergei Lawrow gehört. „Nach allem, was wir sehen, ist Damaskus nicht sonderlich interessiert, eine weitsichtige und flexible Haltung an den Tag zu legen“, bilanzierte der frühere Diplomat.
Stattdessen setze die syrische Führung auf eine militärische Lösung und die Unterstützung seiner Alliierten sowie auf bedingungslose finanzielle und wirtschaftliche Hilfen wie zu alten Zeiten der sowjetisch-amerikanischen Nahost-Konfrontation.
Für neun Jahre, länger als die Weltkriege des vorigen Jahrhunderts, sei Syrien jetzt schon Schauplatz von Kampfhandlungen, einer humanitären Katastrophe sowie ethnischen und religiösen Konflikten. In den vom Regime zurückeroberten Gebieten gebe es „Gräueltaten der syrischen Geheimdienste“, und häuften sich mysteriöse Morde, Drohungen und Entführungen. Ausdrücklich wirft Aksenyonok dem Assad-Regime vor, es sei oft schwer zu unterscheiden, ob dessen Aktionen wirklich ein Kampf gegen Terroristen seien oder Gewalt der Regierung gegen ihre politischen Gegner.
Teurer Wiederaufbau
Entsprechend düster malt der russische Autor Syriens Zukunft. Nach Angaben der Weltbank seien 45 Prozent aller Wohnungen zerstört, genauso wie die Hälfte aller Krankenhäuser und 40 Prozent der Schulen. Mindestens 250 Milliarden Dollar seien nach dem Ende des Krieges erforderlich, das 12-fache des gegenwärtigen syrischen Bruttosozialprodukts. Weder Syrien „noch der kleine Kreis der ausländischen Geldgeber“ könne eine solche Last schultern.
Das Regime aber widersetze sich „unausweichlichen Reformen“. Es sei unwillig oder unfähig, „ein System staatlichen Handelns zu entwickeln, welches Korruption und Kriminalität in die Schranken weist“. Nach Ansicht von Aksenyonok fehlen daher sämtliche Voraussetzungen für große wirtschaftliche Wiederaufbauprojekte. Stattdessen flössen überall, ob im Handel, im Transportwesen oder bei humanitären Lieferungen, Bestechungsgelder – und zwar in die Taschen von Eliteeinheiten, Geheimdienstlern oder Großunternehmern, „die entweder traditionell loyal zur Präsidentenfamilie stehen oder durch den Krieg reich geworden sind”.
unserem Korrespondenten Martin Gehlen