Nach Italien gibt es in Spanien europaweit die meisten
Corona-Toten. „Katalonien wirft Spanien totales Versagen vor“,
sagt der in Barcelona lebende und lehrende Politologe Klaus-Jürgen Nagel.
In Spanien galt seit 14. März eine der striktesten Ausgangssperren der Welt, trotzdem steigt die Zahl der Corona-Toten beständig. Warum ist das so?
Klaus-Jürgen NAGEL: Das hängt auch damit zusammen, dass lange Zeit nicht ausreichend getestet wurde, weil man über keine Tests verfügte und auch erst sehr spät damit anfing, welche zu kaufen. Viele Tests, die dann aus China geliefert wurden, funktionierten nicht. Die hohe Sterblichkeitsrate pro Infiziertem hängt auch damit zusammen, dass weit mehr infiziert sind, als gedacht.
Hat Spaniens Regierung die Coronakrise verschlafen?
NAGEL:Sie hat sehr spät zu härteren Maßnahmen gegriffen. Und dazu hat die Regierung dann auch noch alles zentralisiert und militarisiert, was zu vielen Fehleinkäufen führte. Das spanische Gesundheitssystem ist an sich dezentralisiert und wird von den autonomen Gemeinschaften gut organisiert. Als das Gesundheitssystem zentralisiert wurde, zeigte sich schlicht die fehlende Erfahrung. Die autonomen Gemeinschaften haben daraufhin protestiert, besonders Katalonien. Aber Spaniens Regierung wischte den Protest nur weg: „Ihr mit eurem katalanischen Separatismus!“
Die alten politischen Konflikte gehen weiter?
NAGEL: Ja, natürlich. Sowohl die Zentralregierung als auch die katalanische Führung sind Minderheitsregierungen, also strukturell schwach und immer auf der Kippe. Kataloniens Regierung ist in der Hand von Parteien, die für Kataloniens Unabhängigkeit sind. Und beide Seiten wollen die Krise auch nutzen, um ihre Anhängerschaft zu vergrößern. Der neueste Konfliktstoff ist die Zählung der Toten. Spanien zählt sich ja – salopp gesagt – gesünder, als es ist, indem es nur jene Covid-Toten zählt, die getestet wurden und die in Kliniken sterben. Aber viele alte Menschen sterben ja in Altersheimen oder zu Hause. Kataloniens Regierung fordert daher, auch diese Menschen mitzuzählen. Das macht schon einen Unterschied. So hat Katalonien nach spanischer Zählart rund 6000 Tote und nach eigener Zählung fast 10.000. Katalonien wirft Spanien totales Versagen vor. Manchmal nehmen die Konflikte aber auch spätpubertäre Erscheinungsformen an.
Inwiefern?
NAGEL: Viele Katalanen glauben nicht an Zufall, dass Katalonien eine Schutzmaskenzahl von Spanien erhalten hat, die mit 1714 beginnt. 1714 war der spanische Erbfolgekrieg zu Ende. Die Katalanen standen damals aufseiten der Habsburger, die Spanier auf der Seite der Bourbonen. Und die Bourbonen haben nun einmal gewonnen, und die katalanische Autonomie, die es bis dahin gab, wurde damals abgeschafft. So fragen sich manche Katalanen jetzt eben: „Wieso kriegen wir so eine krumme Zahl an Masken?“ Die Spanier antworten: „Wir haben eben dividiert und das ist der Anteil, der euch zusteht.“ Und der katalanische Innenminister sagt: „Mit 1714 wollt ihr uns wieder einmal das Ende unserer Autonomie vor Augen führen.“
Ist das nicht absurd?
NAGEL: Absolut, aber der ernstere Konflikt ist natürlich die Frage des Gesundheitsmanagements. Die katalanische Regierung war immer für harte Quarantäne. Sie war auch dagegen, dass schon wieder gearbeitet werden darf. Wer am Ende recht hat, wird sich erst in ein paar Wochen zeigen. Falls die Zahl der Toten wieder ansteigt, wird Kataloniens Ministerpräsident erklären: „Ich hab’s euch ja gesagt!“
Wird die Coronakrise auch den Nord-Süd-Konflikt innerhalb der EU wieder befeuern?
NAGEL: Es wird für Europa besonders schwierig. Die EU war schon vor Corona nicht in der besten Verfassung, und die Spannungen und Zerreißkräfte werden beträchtlich sein. Denn die Südschiene wird sagen: „Wir wollen, dass ihr einen Teil unserer Haftungen mit übernehmt.“ Und das werden Länder wie Österreich, Deutschland, Finnland oder die Niederlande nicht sehr schätzen.