Wer hätte das gedacht! In Griechenland ereignet sich gerade ein Wunder. Nur 133 Coronatote zählt das elf Millionen Einwohner zählende Hellas, etwas mehr als 2500 Coronafälle sind gemeldet. Verschwindend wenig. Beinahe scheint es so, als habe das hochansteckende Virus, das den Globus in Atem hält, einen Bogen um das kleine Land mit der großen Geschichte geschlagen. Auch ein kleines Volk könne durchaus Maßstäbe setzen, konstatieren Beobachter fernab von Hellas voller Ehrfurcht.
Das Narrativ lautet: Die Regierenden in Athen hätten Hand in Hand mit herausragenden einheimischen Virologen, Immunologen und sonstigen Nachfahren des alten Hippokrates so blitzschnell wie resolut auf die Pandemie reagiert. Und, siehe da, die notorisch undisziplinierten Griechen hätten diesmal sogar gespurt! Daher habe das Land viel weniger Coronatote und -kranke zu beklagen. Die Griechen seien somit Vorbild für den Rest der Welt. Endlich wieder einmal.
Ein Virologe ist derzeit der populärste Grieche
Der Virologe und Sonderbeauftragte Sotiris Tsiodras, der allabendlich mit seiner für hiesige Verhältnisse angenehm sanften, väterlich wirkenden Stimme die aktualisierte Corona-Statistik vor einem Millionenpublikum am Fernseher bekannt gibt, ist längst zum populärsten Griechen avanciert.
Immer wenn der 55-jährige siebenfache Familienvater die Stunden vorab schriftlich eingereichten und säuberlich selektierten Fragen der aus hygienischen Gründen physisch verbannten Pressevertreter beantwortet und mehr oder minder strenge Ratschläge erteilt, spitzen die Griechen die Ohren.
Premierminister Kyriakos Mitsotakis, ein Wirtschaftsliberaler, der Anfang Juli seinen linken Vorgänger Alexis Tsipras mit einem Wahltriumph aus dem Amt jagte, hat in Umfragen deutlich zugelegt. Fänden heute Wahlen statt, würde Mitsotakis’ konservative Nea Dimokratia einen Kantersieg feiern. Wegen der schönen Corona-Statistik.
Griechenland ist eine Coronatest-Wüste
Nur haben die Zahlen in puncto Corona möglicherweise herzlich wenig mit der Realität zu tun. Der Grund: Bis zum 25. April, genau 59 Tage nach dem ersten festgestellten Coronafall in Griechenland, haben die Behörden insgesamt nur 63.087 Labortests durchgeführt. Dies entspricht im Schnitt 1000 Tests pro Tag. Das ist lächerlich wenig. Im internationalen Vergleich sowieso. Zudem ist unbekannt, wie viele Tests mehrmals bei einzelnen Personen durchgeführt wurden. Griechenland ist eine Testwüste. Mitsotakis, Tsiodras und Co. handeln nach dem simplen Motto: keine Tests, keine Coronafälle. Als Coronatote werden ferner nur jene Sterbefälle gezählt, die in die zur Behandlung von nachweislichen Coronafällen vorgesehenen landesweit 17 Krankenhäuser eingeliefert wurden und dort verstorben sind. Wer woanders stirbt, wird nicht posthum auf den Virus getestet – und taucht so erst gar nicht in der griechischen Statistik auf. Verdachtsfälle fallen ohnehin durch das Coronaraster.
Die Regierung Mitsotakis nutzt die vorbildlichen Zahlen mit einer ausgeklügelten PR-Strategie zur Eigenwerbung. Dies gipfelte darin, dass der vorbildlich in seinem Athener Amtssitz „Villa Maximos“ weilende griechische Premier plötzlich per Skype der in einem Studio im fernen London fragenden CNN-Ikone Christiane Amanpour ausführlich erklären durfte, wie es Hellas geschafft habe, im Kampf gegen die Pandemie so erfolgreich zu sein.
Wer nun glaubt, die Griechen hielten sich brav an die Restriktionen, der irrt gewaltig. Ob in den Straßen, Supermärkten oder Apotheken: Sie sind nicht nur voll. Der Sicherheitsabstand wird kaum eingehalten, Masken tragen die wenigsten.
Die Dunkelziffern dürften sehr hoch sein
Doch es mehren sich die Anzeichen, dass die Dunkelziffer viel höher als in ungleich testfreudigeren Ländern sein dürfte. Erst kürzlich starben drei mit dem Virus infizierte Menschen in zwei Privatkliniken in Athen. Dutzende Patienten wurden positiv auf Corona getestet.
Auf der Insel Kos in der Ostägäis wurde bisher nur ein Fall gemeldet – und zwar am 2. April. Die bei einem positiven Test übliche Spurensuche nach Kontaktpersonen unterblieb. Der Mann sei „nicht in Kontakt mit anderen Personen“ gewesen, erklärte das Krankenhaus in Kos das Versäumnis lapidar.
Auf dem Peloponnes wurde über ein von aus Afrika stammenden Flüchtlingen bewohntes Hotel die Quarantäne verhängt. Eine schwangere Bewohnerin hatte sich infiziert. Der anschließende Massentest ergab, dass rund ein Drittel der knapp 500 Hotelbewohner mit dem Virus infiziert war.
Paradoxerweise soll sich in den fünf völlig überfüllten Flüchtlingslagern auf den Inseln Lesbos, Chios, Samos, Kos und Leros in der Ostägäis bisher kein einziger mit dem Coronavirus Infizierter befinden. Ein wahres Wunder. Denn in den Camps hausen weiter rund 40.000 Flüchtlinge und Migranten unter skandalösen hygienischen Zuständen. Bis zuletzt durften sie das Lager nach Belieben verlassen und nahe gelegene Ortschaften zum Einkaufen aufsuchen. In den Hotspots wird gegenwärtig nur eine Handvoll Coronatests durchgeführt – pro Woche, wohlgemerkt!
Ist Griechenland der Krisengewinnler?
Tatsächlich hat die Regierung Mitsotakis bereits damit begonnen, Griechenland als in Coronazeiten ideales Urlaubsziel für ausländische Touristen zu bewerben. Griechenland werde „der große Krisengewinner in der diesjährigen Reisesaison“ sein, prahlt Wirtschaftsminister Adonis Georgiadis.
Seine dubiose Lesart: Da Italien, Spanien und die Türkei mit ihren viel zahlreicheren Coronafällen und -toten als Urlaubsdestination für Deutsche, Österreicher, Schweizer, Franzosen und Briten in diesem Sommer kaum infrage kämen, werde das offiziell fast virenfreie und folglich im Mittelraum alternativlose Griechenland von Heeren sonnenhungriger Nordeuropäer angesteuert werden.
Faktum ist: Kein anderes Land in Europa ist so vom Tourismus abhängig wie Griechenland. Bleiben die Urlauber aus, hätte dies für Hellas’ Wirtschaft katastrophale Folgen. Dabei ist Griechenland seit 2010 schon durch ein Tal der Tränen gegangen. Ein Fünftel der Wirtschaftskraft ging im Zuge des rigorosen Sparkurses verloren.
Nur langsam rappelte sich das Land in den vergangenen Jahren wieder auf. Nach der Staatsschuldenkrise folgt nun die nächste Katastrophe. Das ist für Griechenland ein herber Rückschlag. Mit der griechischen Mär über die vermeintlichen Triumphe im Kampf gegen Corona will die Regierung in Athen jetzt offenbar retten, was noch zu retten ist.
Ferry Batzoglou aus Athen