Mohamed Mechmache trägt Gummihandschuhe und rudert mit den Armen während des Redens, seine Hände malen Kreise in die Luft, als wollte er Platz schaffen für seine Wut. Mechmache, 54, steht in der Sonne von Clichy-sous-Bois, einer Vorstadt nordöstlich von Paris, gleich neben dem Sozialzentrum. Eine Gruppe von Journalisten umgibt ihn wie einen Gaukler, sie halten ihm ihre Mikros auf langen Stangen hin, Corona-Abstand, und Mechmache erklärt, warum er so zornig ist: Weil das Virus, sagt er, anders als anfangs behauptet, nicht blind ist. Weil es nicht alle gleichbehandelt, ungeachtet der sozialen Stellung. In Frankreich, in den USA, sagt Mechmache, treffe das Virus „die Ärmsten der Armen am härtesten“.
Der engagierte Mann organisiert die Verteilung von Lebensmitteln in Clichy-sous-Bois, wo schon zu normalen Zeiten 40 Prozent der Bewohner in die Armutsstatistik gerechnet werden. „Die Menschen hungern hier“, sagt Mechmache. Leute, die sich mit kleinen Jobs über Wasser gehalten hätten, seien nun ganz verloren; Familien, die darauf angewiesen sind, dass ihre Kinder in der Schulkantine für wenige Cents mittagessen können, wüssten nicht mehr ein und aus; Schwarzarbeiter, unter ihnen viele Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung, hätten kein Auskommen mehr.
In der ärmsten Region
Clichy-sous-Bois liegt im Departement Seine-Saint-Denis, dem ärmsten Frankreichs. Die Sterblichkeitsrate hat sich dort während der Coronakrise verdoppelt. Die Notaufnahmen der Krankenhäuser sind überfüllt. Abgesehen von den Überseegebieten gibt es kein anderes Departement, wo auf tausend Einwohner so wenig Ärzte und Spitalsbetten kommen; keines, wo so wenig Coronatests durchgeführt werden, und keines, wo mehr Ergebnisse, fast die Hälfte, positiv ausfallen.
Denn diejenigen, die in Seine-Saint-Denis noch Arbeit haben, müssen mit den wenigen verbliebenen Nahverkehrszügen nach Paris fahren, wo sie als Müllfahrer, Krankenschwestern, als Pfleger, Supermarktkassiererinnen oder Putzfrauen arbeiten, „an der Front“, wie es Präsident Emmanuel Macron formuliert hat. Aber es ist eine erbärmlich ausgestattete Truppe. Es fehlt an Masken, Handschuhen, Desinfektionsmitteln, es fehlt an Nachschub, an Tests.
Soziale Krise
Längst ist aus der sanitären Krise eine soziale geworden. Anfangs hieß es, in den Vororten von Paris würde der Lockdown nicht respektiert, was in einschlägigen Kreisen und Internetforen zahlreiche Kommentare Marke „typisch Araber“ nach sich zog. Wer das für eine ausreichende Erklärung hält, vergisst, dass eine strenge Ausgangssperre für Menschen, die dicht gedrängt auf wenigen Quadratmeter in einem Wohnblock leben, ganz andere Folgen hat als für die wohlhabenden Pariser, die scharenweise in die Provinz geflohen sind, wo sie nun in den Gärten ihrer Zweitwohnsitze aus dem Homeoffice arbeiten.
Wer nach Clichy-sous-Bois fährt, dem bestätigt es sich nicht, dass sich in den Vorstädten niemand an die Sperre halte. Es sind nicht mehr Menschen auf der Straße als in den gutbürgerlichen Vierteln von Paris. Es gab aber, anders als in Paris, Polizeikontrollen, die aus dem Ruder liefen.
Wie jene vom vergangenen Wochenende, als ein Motorradfahrer, der nachts ohne Helm unterwegs war, gegen die Tür eines Polizeiwagens knallte und sich den Oberschenkelhalsknochen brach. Ob die Polizisten die Tür absichtlich geöffnet haben, ist unklar. Aber selbst die Abendnachrichten des öffentlich-rechtlichen Fernsehens zeigten das Video, in dem sich der junge Mann am Boden vor Schmerz krümmt und wimmert.
In den folgenden Nächten gingen Autos und Mülltonnen in Flammen auf, Feuerwerkskörper und Steine flogen auf Polizisten. Seine-Saint-Denis, das berüchtigte Departement 93, in Frankreich kurz Neuf-Trois genannt, machte seinem Namen als Chiffre für Arbeitslosigkeit, Aussichtslosigkeit und Kriminalität wieder alle Ehre. Debatten über Recht und Ordnung folgten, und Marine Le Pen, Chefin des Rassemblement National, nutzte die Gelegenheit, die Wähler daran zu erinnern, dass es in Frankreich nur eine rechtsextreme Partei gibt, die den Namen verdient: „Unterstützen Sie uns, um den Abschaum auszumerzen“, hieß es in einem Parteispendenaufruf.
Präsident Macron ruft die Franzosen zu nationaler Einheit auf. Tatsächlich hat die Krise anfangs wie „Zement“ gewirkt, sagt Jérôme Fourquet. „Die Nation fühlte sich kurz wie in Kriegszeiten geeint.“ Der Politologe ist seit seinem Bestseller „L’Archipel français“, in dem er die Zersplitterung der französischen Gesellschaft beschreibt, sehr gefragt. „Der Zement hat nicht lang gehalten“, sagt er, „im Gegenteil.“ Die Gräben und Brüche seien tiefer geworden.
Sogar der Präfekt des Departements 93, Georges-François Leclerc, warnt vor „Hungeraufständen“. Die Regierung will 50 Millionen Euro für Härtefälle reservieren, davon sollen 2,6 Millionen in das Departement Seine-Saint-Denis fließen, wo man 25.000 „Haushalte in Not“ identifiziert hat. Stimmen die Zahlen, kann jeder Haushalt „in Not“ mit 104 Euro staatlichem Zuschuss rechnen.
Fragt man Mohamed Mechmache, den Mann, der die Lebensmittelspenden organisiert, ob nun die Gewalt wieder aufflammen werde in den Vorstädten, bekommt man keine eindeutige Antwort. Einer wie er ist strikt gegen Gewalt, aber er sagt: „Wir haben es hier mit einer Form von sozialer Misshandlung zu tun. Das ist die Ursache. Die Wut selbst ist nur ihr Symptom.“ Es sei an der Zeit, die Ursachen zu beseitigen. „Frankreich ist angeblich eine Weltmacht, aber schaut euch an, was hier los ist, schaut euch um.“
Hinter ihm türmen sich die Lebensmittelspenden auf Tischen: hier Auberginen, Kartoffeln, Zwiebeln, Tomaten, dort Einkaufstaschen mit Nudeln, Öl, Reis. Es ist die vierte Verteilung, die Mechmache mit seinem Verein in Clichy-sous-Bois organisiert. Beim ersten Mal, erzählt er, kamen 190 Menschen. Beim zweiten Mal 490. Beim dritten Mal 750. An diesem Morgen ist die Schlange der Wartenden schon mehrere Hundert Meter lang. Es sind mehrheitlich Frauen, die warten. Um elf Uhr wird sich das Tor öffnen.
Safiatou Traore ist eine der ersten gewesen. „Wir waren um sieben Uhr früh hier, ich habe mich mit meinen Töchtern abgewechselt“, sagt die 34-jährige Frau, die von der Elfenbeinküste stammt. Sie wohnt mit ihrem Mann und sechs Kindern in einer Dreizimmerwohnung auf 56 Quadratmetern, erzählt sie.
Traore ist eine große Frau, sie ist gut gelaunt, trägt einen Rock aus Dutch Wax mit afrikanischem Muster. Ihr Mann? Arbeitslos. Bis zur Ausgangssperre hat Traore in einem Hotel als Zimmermädchen gearbeitet. Das Hotel ist zu. Jetzt schiebt sie ihren Einkaufstrolley an einen der Tische mit Spenden.
Mohamed Mechmache steht abseits und telefoniert. Er erkundet sich nach seinem Vater, der im Spital liegt. Covid-19. Der Vater ist als junger Mann aus Algerien gekommen und hat Ende der 60er-Jahre als Bauarbeiter die Cité des Bosquets mitgebaut, in die die Familie später selbst eingezogen ist.
Aus dem Architektentraum von hellen Wohnungen, frischer Luft und dem Luxus von Müllschluckern ist über die Jahre ein Albtraum geworden, ein gesellschaftliches Abstellgleis. Dort, in der Cité des Bosquets, gingen die Aufstände der Banlieues 2005 los. Dort kann man von den Dächern der Wohnblöcke die Silhouette von Paris sehen. Die Stadt wirkt nah, aber sie ist es nicht.