Nahezu eineinhalb Jahre lang herrschte in Israel politischer Stillstand. Jetzt steht das Land kurz davor, eine neue Regierung zu bekommen. Am Montagabend einigten sich Premierminister Benjamin Netanjahu vom rechtsgerichteten Likud und der Vorsitzende der Zentrumspartei Blau-Weiß, Benny Gantz. In Jerusalem unterschrieben sie einen Koalitionsvertrag für eine „nationale Notfall-Einheitsregierung“.
Beide Top-Politiker äußerterten sich lediglich knapp in den sozialen Netzwerken nach dem Unterzeichnen. Netanjahu schrieb auf Twitter unter dem Bild der Flagge Israels: „Ich habe dem Staat Israel eine Notfallregierung versprochen, die Leben und Lebensunterhalt von Israelis retten wird“. Gantz twitterte ebenfalls: „Wir haben eine vierte Wahl verhindert. Wir werden die Demokratie schützen. Wir werden das Coronavirus bekämpfen und uns um alle israelischen Bürger kümmern“.
32 Minister
Dem Vertrag zufolge würde mit dieser Regierung das größte Kabinett aller Zeiten entstehen. 32 Minister kämen sofort ins Amt, nach dem Ende der Coronakrise sogar 36. Die Parteien Likud und Blau-Weiß teilen sich die Portfolios zu gleichen Teilen 16-16 und später 18-18. Damit setzte Gantz eine seiner Hauptforderungen durch, denn die Zahl der Abgeordneten, die ihn unterstützen, beläuft sich nach dem Auseinanderbrechen des Mitte-Links-Bündnisses lediglich noch auf 19.
Der Likud vereint währenddessen 37 Sitze zuzüglich 16 der ultraorthodoxen Parteien Schas und Vereintes Tora-Judentum. Eine breite Koalition wird über 72 Mandate in der 120 Sitze zählenden Knesset verfügen. Die Regierung soll für 36 Monate an der Macht bleiben, mit Netanjahu als erster an der Spitze. Nach dem Ablauf der Hälfte der Zeit soll Gantz auf dem Chefsessel Platz nehmen, ohne dass weitere Gesetzgebung nötig wird.
Dass das Misstrauen groß ist, lässt sich an vielen Stellen des Abkommens lesen. Die Abgeordneten aus dem Zentrumsblock zweifeln offenbar, dass Netanjahu Wort halten und die Macht ohne Widerstand nach 18 Monaten transferieren wird. Daher ließen sie verschiedene komplexe Paragraphen einbauen, die dies garantieren sollen.
In den ersten sechs Monaten will sich die Regierung hauptsächlich um die Folgen der Pandemie kümmern und verpflichtet sich, keine wichtige Gesetzgebung einzubringen, die damit nichts zu tun hat. Außerdem sollen keine Besetzungen von Schlüsselpositionen vorgenommen werden. Es soll zudem über das Regieren Post-Corona verhandelt werden.
Annexion von Teilen der Westbank
Gleichwohl soll es Netanjahu erlaubt sein, bereits ab 1. Juli eine Abstimmung ins Parlament über die Annexion von Teilen der palästinensischen Westbank zu bringen. Angeblich soll es laut Koalitionsvertrag „keine Verzögerung durch Komitees geben“. Die Annexion der jüdischen Siedlungen, von der internationalen Gemeinde und den Palästinensern scharf kritisiert, soll entsprechend des umstrittenen „Jahrhundert-Deals“ von US-Präsident Donald Trump geschehen.
Politikexperten wie israelische Bevölkerung hoffen gleichermaßen, dass eine Einheitsregierung die politische Situation stabilisiert. Denn seit den Wahlen am 2. März hatte eine Turbulenz nach der anderen das Geschehen in Jerusalem bestimmt. Mit dem Ausbruch des Coronavirus hatte sich die Lage noch verschärft.
Nach wie vor hängt auch das Damoklesschwert von drei Korruptionsklagen über Netanjahu. Zwar wurde die Arbeit der Gerichte durch das Virus zunächst eingefroren, doch irgendwann wird der Tag kommen, an dem er auf der Anklagebank Platz nehmen muss. Gantz hat diesbezüglich offenbar noch nicht entschieden, ob er einen Gesetzesvorschlag einbringen wird, der einen wegen krimineller Vergehen angeklagten Ministerpräsidenten aus dem Amt jagt, oder ob er stattdessen versucht, die Regierung so lang wie möglich am Leben zu halten. Entgegen seines Versprechens an die Wähler, „die Alternative zu Netanjahu“ zu sein.