Der Mann auf der Bahre kämpft um sein Leben.Der Bauch liegt frei, das grüne T-Shirt ist bis unter die Achseln hochgezogen, der Kopf steckt in einem Beatmungsgerät. Seine Arme sind mit Handschellen angekettet. Bewacht wird der Gefangene von einem Revolutionsgardist mit Schnellfeuergewehr und Schutzmaske. Das Foto wurde heimlich aufgenommen auf einem der Flure des Imam Shahr Hospitals von Ahvaz, der Hauptstadt der westiranischen Unruheprovinz Khuzestan. Längst macht die Corona-Epidemie auch vor den nahöstlichen Haftanstalten nicht mehr Halt. In mehreren Städten der Islamischen Republik kam es zu Gefängnisrevolten. Häftlinge starben durch Kugeln der Aufseher, andere konnten entkommen. Aus dem berüchtigten Evin-Gefängnis in Teheran berichtete die Menschenrechtsanwältin Nasrin Sotoudeh, auf ihrem Zellenflur seien ein Gefangener und ein Wächter positiv getestet und weggebracht worden, zwei Wächterinnen hätten Symptome. „Freiheit, Freiheit“, skandierten auf einem Video aus dem Libanon hunderte zusammengepferchte Häftlinge in dem Gefängnis von Roumieh.
Im Nahen Osten ist bislang der Iran mit über 62.500 Infektionen und 3870 Toten das Epizentrum der Corona-Pandemie. Doch auch in anderen bevölkerungsreichen Nationen der Unruheregion, wie Ägypten, Irak oder Syrien, könnten es bald zu Masseninfektionen kommen. Bislang melden sie noch deutlich weniger Fälle, die Dunkelziffern aber sind vermutlich sehr hoch.
Gefangene sind dem Virus schutzlos ausgeliefert
Gleichzeitig quellen in allen nahöstlichen Staaten die Gefängnisse über. Zehntausende Demokratieaktivisten, politische Oppositionelle und Gewerkschafter sitzen hinter Gittern, bisweilen nur, weil sie es wagten, die Repressionen ihrer Herrscher auf Facebook oder Youtube zu kritisieren. Allein im Iran gibt es 220.000 Gefangene, gemessen an der Bevölkerung viermal so viele wie in Deutschland. 100.000 Insassen bekamen jetzt wegen Corona Haftverschonung, zunächst bis zum 19. April. Politische Häftlinge wie Nasrin Sotoudeh jedoch müssen bleiben und sind dem Virus weiterhin schutzlos ausgeliefert. Ist auch nur ein Wärter, ein Besucher oder ein neuer Häftling infiziert, kann sich die Lungenpest lawinenartig in den schmutzigen, überbelegten Zellen ausbreiten. Chronisch schlechte Ernährung, dreckiges Trinkwasser, Infektionen, Mangel an warmer Kleidung und Folter kommen hinzu. Nicht selten sind bis zu 50 Personen auf einer Fläche zusammengepfercht, die eigentlich für zehn ausgelegt ist.
Ägypten und Syrien verweigern Amnestie
Mit Tunesien, Algerien, Marokko, Jordanien und Bahrain sind mittlerweile fünf Staaten dem Beispiel Teherans gefolgt und haben einen Teil ihrer Gefängnisse geleert.Ägypten und Syrien dagegen mauern, neben dem Iran die beiden anderen Massenverhafter der Region. Ägypten hat derzeit mindestens 114.000 Menschen eingesperrt, darunter 1000 Ärzte und Apotheker. Gefangene in Syrien, die in den letzten Monaten freikamen, berichten von unbeschreiblichen Zuständen. Inhaftierte schlafen auf dem nackten Fußboden, inmitten von Blut und Exkrementen. Auch gibt es erste Fälle mit Corona-Symptomen, jedoch weder Tests noch irgendwelche ärztliche Hilfe.
Mindestens 90.000 Regimegegner sitzen derzeit in den Assad-Kerkern. Weitere 100.000 sind seit 2011 spurlos verschwunden, zu Tode gefoltert, verhungert oder hingerichtet. Für das Assad-Regime sei die Corona-Seuche ein guter Vorwand, noch mehr Menschen zu töten und dann zu behaupten, sie seien an dem Lungenvirus gestorben, befürchtet Samer Aldeyaei, Mitbegründer des „Syrischen Vereins freier Rechtsanwälte“ im türkischen Exil.
„Wer im Nahen Osten im Gefängnis sitzt, ist wesentlich schlechter dran als in anderen Teilen der Welt”, urteilt Philippe Nassif, Koordinator für Nahost und Nordafrika bei Amnesty International in den USA. Und so richtete die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet dieser Tage eindringliche Appelle vor allem an Kairo und Damaskus. Gefangene in Ägypten, die krank oder minderjährig seien, keine Gewalttaten begangen hätten oder wegen ihrer politischen Ansichten säßen, sollten auf freien Fuß gesetzt werden, forderte Bachelet – das wären nach UN-Schätzung mindestens 40.000 Personen. Die Lage in Syrien nannte die UN-Kommissarin „besonders alarmierend”. Sollten hier nicht ausreichende Zahlen von Gefangenen entlassen werden, „wird das zu noch mehr Tod und Elend führen, nach neun Jahren erbarmungslosem Sterben, Zerstörung und Vertreibung”.
unserem Korrespondenten Martin Gehlen aus Tunis