Es war ein dramatischer Appell an das Weltgewissen. „Beendet die Seuche des Krieges und bekämpft die Krankheit, die unsere Welt verwüstet“, beschwor UN-Generalsekretär Antonio Guterres die Verantwortlichen des Globus und forderte angesichts der Corona-Bedrohung einen sofortigen Waffenstillstand in allen Teilen der Welt. „Bringt die Waffen zum Schweigen, stoppt die Artillerie, beendet die Luftangriffe.“ Es sei an der Zeit, sich gemeinsam auf den wahren Kampf unseres Lebens zu konzentrieren.
Im Blick hat der Chef der Vereinten Nationen dabei vor allem die verheerenden Bürgerkriege im Nahen Osten, in Syrien, Jemen und Libyen. Überall das gleiche Bild - Millionen auf der Flucht, Krankenhäuser in Trümmern und das Gesundheitswesen am Boden. Fachleute befürchten eine dramatische Ausbreitung der Lungenkrankheit. Denn die neue Seuche trifft auf eine Bevölkerung, die ihr völlig hilflos ausgeliefert ist. „Es wird ein Massensterben geben, wenn die Pandemie Teile von Syrien und den Jemen erreicht“, erklärte Jan Egeland, Generalsekretär des Norwegischen Flüchtlingsrats. Das in New York ansässige „International Rescue Committee“ (IRC) warnte, das durch neun Jahre Bürgerkrieg ruinierte Syrien könnte weltweit zur schlimmsten Corona-Region werden.
- Das betrifft vor allem die nordsyrischen Rebellengebiete. Noch gibt es hier keinen offiziellen Corona-Fall, denn erst diese Woche will die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die ersten 300 Test-Kits liefern. „Bleibt zu Hause - ich wünschte, ich könnte das", schrieben in Zeltlagern zusammengepferchte Flüchtlinge auf Plakate. Die meisten Krankenhäuser sind durch russische und syrische Luftangriffe zerstört oder beschädigt. Für die rund vier Millionen Bewohner existieren nach WHO-Angaben lediglich 148 Intensivbetten und 153 Beatmungsgeräte. Nirgendwo gibt es Schutzmasken, Handschuhe oder ausreichend Desinfektionsmittel. Obendrein sind eine Million Menschen seit der jüngsten Assad-Offensive auf der Flucht. Die meisten leben unter unvorstellbaren Bedingungen in einem schmalen Korridor entlang der syrisch-türkischen Grenze. Ihre Zelte stehen auf engstem Raum. Es fehlt an allem - Lebensmitteln, Medikamenten und Heizmaterial.
- Ein ähnlicher Corona-Albtraum droht auch im Jemen. Schon jetzt leidet das Land nach fünf Jahren Bürgerkrieg an der größten Cholera-Epidemie der Gegenwart. 2,3 Millionen Menschen haben sich angesteckt, jeden Tag kommen nach Angaben der Nothilfeorganisation Oxfam 1200 neue Erkrankungen hinzu. Die Hälfte der Bevölkerung ist unterernährt oder hungert. 17 Millionen Jemeniten haben kein sauberes Wasser, eine Grundvoraussetzung für jegliche Hygiene. 3,6 Millionen Binnenflüchtlinge hausen in Zeltlagern, Rohbauten oder Slums am Rande der Städte. In den ersten vier Kriegsjahren von März 2015 bis Dezember 2018 gab es nach einer aktuellen Studie der „Ärzte für Menschenrechte“ (PHR) zusammen mit der jemenitischen NGO „Mwatana für Menschenrechte“ über 120 Angriffe auf Kliniken. „Als Arzt bist du in diesem Krankenhaus jederzeit in Gefahr“, berichtete ein Mitarbeiter der Al-Thawra-Klinik in Taif, die regelmäßig attackiert wird. „Die meisten Kollegen sind nach den vielen Angriffen weggeblieben. Wir haben nur noch einen Orthopäden und zwei Chirurgen übrig. Die anderen Spezialisten sind nicht mehr hier.“
- In Libyen sind bislang 150.000 Menschen aus ihren Häusern geflohen und suchen Zuflucht in Schulen und Massenunterkünften. Die Hospitäler sind überfüllt mit zivilen Bombenopfern und verwundeten Kämpfern. Offiziell gibt es auch in Libyen bisher keinen Corona-Fall, doch die Menschen befürchten, von der Türkei angeheuerte syrische Rebellen könnten das Virus eingeschleppt haben. In Tripolis verhängt die international anerkannte Regierung von Ministerpräsident Fayez al-Sarraj eine nächtliche Ausgangssperre. Nach Recherchen des niederländischen Clingendael Instituts kämpfen inzwischen auch 300 bis 400 Assad-Soldaten an der Seite von General Khalifa Haftar, der kürzlich eine eigene diplomatische Vertretung in Damaskus eröffnete. Der unter der Vermittlung von Berlin für den 12. Januar vereinbarte Waffenstillstand wird immer wieder gebrochen.
„Unsere Welt hat einen gemeinsamen Feind – Covid-19“, beschwor daher UN-Generalsekretär Antonio Guterres in seinem Corona-Notruf alle Kriegsparteien. Das Virus schere sich nicht um Nationalitäten, Ethnien, Fraktionen oder Glaube. Es attackiere alle - und zwar gnadenlos, auch in Kriegszeiten. „Die Wut des Virus offenbart die Torheit des Krieges.“
unserem Korrespondenten Martin Gehlen aus Tunis