Nach der Ausschaltung des Parlaments in der Coronakrise nimmt der Druck auf die ungarische Regierung zu. Während Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) einen Stopp von EU-Zahlungen an die "Semidiktatur" Ungarn forderte, will der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP), Donald Tusk, einen neuen Anlauf für den Ausschluss der ungarischen Regierungspartei Fidesz starten. Kritik kam auch aus den USA.
"Die Europäische Union muss hier von sich aus einschreiten. Es ist auch nicht einzusehen, einer solchen Semidiktatur Unionsgelder anderer demokratischer Staaten zukommen zu lassen", sagte Kogler der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" laut Vorausmeldung vom Mittwoch. Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP), die sich noch am Dienstag mit einer Bewertung des umstrittenen Notstandsgesetzes zurückgehalten hatte, äußerte Kritik. "Ich sehe dieses Gesetz insofern kritisch, als es keine Befristung gibt. (...) Die Frage ist, wer sagt, wann die Krise dann beendet ist", sagte sie am Mittwoch bei einer Online-Diskussion der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE).
Pandemie ausnützen
"Die Pandemie auszunutzen, um einen permanenten Ausnahmezustand aufzubauen, ist politisch gefährlich und moralisch inakzeptabel", kritisierte Tusk in einem Schreiben an die Vorsitzenden der EVP-Mitgliedsparteien. Er räumte ein, dass der Kampf gegen die Pandemie derzeit "oberste Priorität" habe. "Aber die Zeit wird bald kommen, in der Sie Ihre Positionen erneut überdenken müssen", sagte er mit Blick auf jene EVP-Parteichefs, die bisher gegen einen Ausschluss von Fidesz aus der größten europäischen Parteienfamilie waren.
Der EVP-Vizechef Johannes Hahn bezeichnete die Entwicklung in Ungarn als "besorgniserrgend". Der EU-Budgetkommissar wies zugleich darauf hin, dass die zuständigen Mitglieder der Brüsseler Behörde das ungarische Gesetz derzeit analysierten. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte am Dienstag schaumgebremst auf den ungarischen Beschluss vom Vortag reagiert. In einer Erklärung pochte sie darauf, dass Notmaßnahmen "nicht unbegrenzt" dauern dürfen, nannte aber Ungarn nicht beim Namen.
Der sozialdemokratische luxemburgische Außenminister Jean Asselborn sprach sich indes dafür aus, dass Ungarn auf EU-Ebene das Mitentscheidungsrecht entzogen wird. "Ungarn gehört ohne Zeitverlust in eine strikte politische Quarantäne", sagte er der Tageszeitung "Die Welt". "Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass innerhalb der EU eine diktatorische Regierung existiert", betonte er.
Deutschland zeigt sich zurückhaltend
Zurückhaltender fiel die Reaktion Deutschlands aus. "Ein Notstandsgesetz mit weitreichenden Einschnitten ist ein Anlass zur Sorge", sagte die Sprecherin des Auswärtigen Amtes, Maria Adebahr, am Mittwoch in Berlin. Staatsminister Michael Roth werde auch deswegen noch im Tagesverlauf mit der ungarischen Justizministerin Judit Varga telefonieren. Vize-Regierungssprecherin Ulrike Demmer betonte, man lebe zwar in außergewöhnlichen Zeiten. "Aber in Krisenzeiten schlägt eben auch die Stunde des Rechtsstaates."
Gegen Ungarn läuft bereits ein Rechtsstaatsverfahren der Europäischen Union, das in letzter Konsequenz zum Entzug von Stimmrechten führen kann. Ein Erfolg dieses Verfahrens ist jedoch fraglich, weil sich Budapest auf die Unterstützung Polens verlassen kann, gegen das ebenfalls ein Artikel-7-Verfahren im Gange ist. Für den Stimmrechtsentzug ist nämlich eine einmütige Entscheidung der restlichen Mitgliedsstaaten erforderlich.
Der SPÖ-Delegationsleiter im Europaparlament, Andreas Schieder, kritisierte indes die Haltung von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP). "Leider ist Sebastian Kurz einer, der (Ungarns Ministerpräsident, Anm) Viktor Orban immer die Mauer macht in der Europäischen Volkspartei", sagte Schieder am Mittwoch in einer Online-Diskussion. Kurz habe erklärt, er habe bisher keine Zeit dafür gehabt, habe aber zur Lage in Venezuela sehr wohl einen Tweet abgesetzt, kritisierte der SPÖ-Politiker.
Während NEOS-Europaabgeordnete Claudia Gamon die Kritik am ungarischen Gesetz bekräftigte, meinte ihr FPÖ-Kollege Georg Mayer, dass die ungarische Regierung "in einer Notlage, so wie andere europäische Regierungen auch, verfassungskonform gehandelt" habe. FPÖ-Klubchef Herbert Kickl sagte der "Tiroler Tageszeitung" (Donnerstagsausgabe), Ungarn habe eine andere Verfassung als Österreich. "Über die Verfassung bestimmen die Länder jeweils demokratisch selbst. Das ist gut so." Im Übrigen sei "der eigentliche Ansprechpartner für die Frage des ungarischen Vorgehens ÖVP-Obmann Sebastian Kurz, der mit der Fidesz in der gleichen Parteienfamilie sitzt."
Auch Kritik aus den USA
Kritik kam auch aus den USA. Eine Sprecherin des US-Außenministeriums sagte am Mittwoch auf eine Frage zu Ungarn, Regierungen in aller Welt sollten im Kampf gegen das Coronavirus "unangemessene Beschränkungen" von Grundrechten vermeiden. "Regierungen sollten sicherstellen, dass solche Befugnisse auf die notwendige Zeitspanne beschränkt sind, um auf die derzeitige Krise zu reagieren, und aufgehoben werden, sobald sie nicht mehr notwendig sind."
Orban macht ersten Rückzieher
Die ungarische Regierung machte indes einen ersten Rückzieher. Ein ursprünglich geplantes Gesetz zur Entmachtung von Bürgermeistern wurde am Mittwoch zurückgezogen. Die Gemeindeoberhäupter hätten ihre Befugnisse sogenannten Schutzkommissionen übertragen sollen. Dies hätte die Opposition weiter geschwächt, hat sie doch bei den Kommunalwahlen im Oktober die Kontrolle über die Hauptstadt Budapest und weitere Großstädte erlangt.
Zudem kündigte das Verfassungsgericht am Mittwoch an, die nunmehr ohne parlamentarische Kontrolle amtierende Regierung künftig stärker kontrollieren zu wollen. "In Ermangelung von Sitzungen des Parlaments" werde das Höchstgericht nun den Entscheidungen der Regierung eine "besondere Aufmerksamkeit" widmen, teilte Verfassungsgerichtshofspräsident Tamas Sulyok am Mittwoch mit.