Indien meldete zuletzt 1000 Corona-Infizierte und 30 Menschen, die am Coronavirus starben, berichtet die amerikanische Johns Hopkins Universität, die die aktuellen Corona-Daten aus aller Welt registriert und laufend aktualisiert. Doch stimmen die Zahlen mit der Wirklichkeit überein?
Nicht nur in Indien ist die Angst groß, dass das Land mit seinen 1,3 Milliarden Menschen vor einer massiven Corona-Infektionswelle steht. Die Johns Hopkins University rechnete zuletzt vor, dass sich 200 Millionen Menschen in Indien in den nächsten zwei Monaten mit dem Coronavirus infizieren könnten - wenn sich die Bevölkerung nicht an die Ausgangsbeschränkungen hält.
Bis Mitte Mai steht Indiens Bevölkerung zwar praktisch unter Hausarrest, denn Indiens Regierung hofft, damit eine weitere Ausbreitung des Coronavirus stoppen zu können. Doch wie funktioniert eine Ausgangssperre in einem Land, in dem laut Caritas 22 Prozent aller Inderinnen und Inder unterhalb der Armutsgrenze leben müssen, was rund 300 Millionen Menschen entspricht?
"Infektionsrate ist weit höher"
Dharanidharan CS (das C steht für den Großvater, das S für den Vater), der Abschlüsse der Eliteuniversitäten Sciences Po in Paris und Oxford in der Tasche hat, Consulter der OECD und der indischen Regierung war und mittlerweile nach Tamil Nadu in den Süden Indiens zurückgekehrt ist, wo er der drittgrößten Partei Indiens, der DMK, auf die Beine helfen will, schildert der Kleinen Zeitung die Lage in Indien: "Die Infektionsrate ist weit höher als die offiziellen Zahlen. Das liegt vor allem daran, dass nur ein paar Prozent der Bevölkerung überhaupt getestet sind. Die ,Times of India' schrieb heute, dass bis jetzt 35.000 Menschen getestet wurden: Das sind 0,00003 Prozent der Bevölkerung! So wenig Menschen wurden überhaupt nirgendwo auf der Welt getestet."
Wegen der Corona-Ausgangsbeschränkungen müssen in Indien viele gestrandete Wanderarbeiter jetzt zu Fuß nach Hause in ihre Dörfer zurück. Am Wochenende versuchten Tausende von ihnen ihre Heimatorte zu erreichen.
300 Millionen unter der Armutsgrenze
"Zu den 300 Millionen Menschen, die in Indien unter der Armutsgrenze leben, kommen weitere 400 Millionen Menschen dazu, die im sogenannten informellen Sektor arbeiten, in schlecht bezahlten Jobs. Rund 50 Prozent der indischen Bevölkerung - beispielsweise Bauarbeiter, Brotverkäufer, Rikscha- und Tuk-Tuk-Fahrer - leben in Armut und schaffen es gerade irgendwie über die Runden zu kommen. Wenn der Staat da nicht sofort eingreift und Lebensmittel verteilt, dann überleben diese Menschen die Ausgangssperren nicht - da braucht es dann kein Covid 19 mehr", warnt Dharanidharan CS.
Regierungschef Narendra Modi hatte in der Vorwoche die 1,3 Milliarden Einwohner Indiens angewiesen, drei Wochen lang zu Hause zu bleiben, damit die Pandemie eingedämmt werden kann. Damit verloren Tagelöhner nicht nur ihr Einkommen, sondern sie waren auch plötzlich gestrandet, weil aus den großen Städten keine Züge und Busse mehr in Richtung ihrer Dörfer fahren. Auf den Fotos und in den Fernsehnachrichten aus Indien waren Menschentrauben in den Straßen zu sehen. Ohne Mundschutz, dicht an dicht.
Um ein Bild von der tatsächlichen Verbreitung des Coronavirus zu bekommen, müssten viel mehr Menschen mit Grippe-Symptomen getestet werden, rät auch Thiaragaran Sundararaman, der ehemalige Direktor von Indiens National Health Systems Resource Center, einem beratenden Gremium des indischen Gesundheitsministeriums.
Auch der indische Epidemiologe Jayaprakash Muliyil warnt: Laut seinen Schätzungen könnten bis zu 55 Prozent der indischen Bevölkerung am Coronavirus erkranken.
"Indien gibt rund ein Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für das Gesundheitssystem aus, Deutschland zehnmal soviel - Indien hat eines der miserabelsten Gesundheitssysteme der Welt", sagt Dharanidharan CS. Im Jänner seien die ersten Coronavirus-Fälle in Indien aufgetaucht, erklärt er, "jetzt haben wir Ende März: Obwohl Indien drei Monate Zeit hatte, um sich vorzubereiten, ist nichts geschehen. Indien verhielt sich lethargisch, nur Menschen mit Symptomen wurden getestet: Das Testmaterial wurde nicht vorbereitet, die Spitäler wurden nicht vorbereitet, viele Ärzte haben keine Schutzausrüstung. Und wie auch ,Forbes' schrieb, hat Indien eine der geringsten Zahlen an Intensivbetten. Italien hat 12,5 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner, Deutschland hat 29,2 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner, Indien hat im Vergleich dazu 2,3!"
Geht es nach Experten aus den USA, könnten auf jeden nachweislich positiv getesten Menschen fünf bis zehn unentdeckt infizierte Personen kommen.