Die für morgen geplante Abstimmung im ungarischen Parlament über eine Verlängerung des am 11. März ausgerufenen Ausnahmezustands (wortwörtlich: „Veszelyhelyzet“, „Gefahrensituation“) zur Bekämpfung der Coronavirus-Krise, wurde auf heute vorverlegt.
Es wurde auf Vorschlag von Parlamentspräsident Laszlo Köver vorverlegt.
Das, so klagt die Opposition und so wähnen liberale Kritiker im Ausland, könnte Ungarn dauerhaft in eine Autokratie verwandeln.
Wie? Es gibt im Gesetzentwurf keine konkrete Zeitgrenze. Es gab zwar auch vorher keine: Laut Verfassung ruft die Regierung den Gefahrenzustand aus, und erklärt, das hat dann so lange Bestand, bis die Gefahr für beendet erklärt wird. Die Gültigkeit der Maßnahmen aber, die in diesem Rahmen per Dekret getroffen werden, sind bislang auf 15 Tage begrenzt. Das soll nun laut Entwurf entfallen. Damit kann Ministerpräsident Viktor Orbán ohne Parlament regieren, bis er selbst entscheidet, damit aufzuhören.
Volksbefragungen und Nachwahlen dürfen in dieser Zeit laut Entwurf nicht abgehalten werden. Es ist nicht klar, ob und wann das Parlament nach der Abstimmung am heutigen Montag wieder zusammentritt. Exekutive und Legislative sind bis auf Weiteres verschmolzen.
Parlamentswahlen – sie sind 2022 fällig – werden in dem Gesetzesentwurf nicht erwähnt.
So hat noch kein Land reagiert
So hat noch kein EU-Land auf die Krise reagiert. Vielerorts wurde ein Notzustand verhängt, aber zeitlich begrenzt – in Italien etwa auf sechs Monate. Es gibt zeitlich unbegrenzte Maßnahmen, etwa das Corona-Hilfspaket der deutschen Bundesregierung. Aber Notstandsbefugnisse ohne Zeitgrenze, die gibt es nicht.
Der Rechtsausschuss des Europaparlaments (LIBE) hat die EU-Kommission und das Europäische Parlament aufgefordert, die Entwicklung in Ungarn genau zu verfolgen. Die Vorsitzende des Europarates, Marija Pejcinovic, schrieb Orbán einen Brief, in dem sie Sorgen äußerte. Orbán antwortete brüsk: Sie möge den Entwurf erst einmal lesen und ihn ansonsten nicht bei der Arbeit stören.
Die Regierung argumentiert, es gebe sehr wohl eine zeitliche und inhaltliche Begrenzung. Sie darf ihre Sondervollmachten nur zur Bekämpfung des Virus verwenden. Diese Maßnahmen müssen „verhältnismäßig“ sein. Das Parlament, oder, wenn es nicht zusammentreten kann, dessen Fraktionschefs, müssen regelmäßig unterrichtet werden. Das Verfassungsgericht geht seinen Aufgaben weiter nach.
"Krisenzustand" gilt seit der Migrationskrise
Ungarn rief 2016 einen „Krisenzustand“ in der Migrationskrise aus, der seitdem alle sechs Monate verlängert wurde und bis heute gilt. Auch das Coronavirus wird weiter existieren. Aber es gibt nun objektivere Messlatten: Die Verfügbarkeit einer Impfung, oder eines Medikaments zur Behandlung von Covid-19 wären Gründe, den Ausnahmezustand zu beenden.
Der Vergleich mit 2016 zeigt vor allem, dass Orbán kaum angewiesen ist auf einen zeitlosen Notstand. Er hat eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, kann also immer verlängern. Seine Umfragewerte wachsen in der Krise sogar – wie auch in anderen Ländern die jeweiligen Regierungsparteien erstarken.
Dass Orbán eventuell die Parlamentswahlen 2022 verschieben will (weil er es erstmals mit einem Zusammenschluss aller Oppositionsparteien zu tun hat und tatsächlich verlieren könnte), ist kaum vorstellbar. Sogar der scharfe Orbán-Kritiker Dániel Hegedüs schrieb in einer Analyse für den German Marshall Fund: „Es wird kaum möglich sein, diese Vollmachten als EU-Mitglied auf Jahre hinaus zu behalten.“ Tatsächlich ist es wahrscheinlicher, dass Orbán die Wahlen 2022 gewinnen, als dass er sie verschieben oder aussetzen wird. Dafür müsste er die Verfassung ändern, denn die sieht ein präzises Zeitfenster für Parlamentswahlen vor. Die Verlängerung des Notstands reicht dafür nicht aus.
Machtpolitisches Kalkül
Ein machtpolitisches Instrument ist der Ausnahmezustand aber dennoch. Sogar ein prominenter Oppositionspolitiker, der damit aber nicht zitiert werden wollte, sagte der Kleinen Zeitung, Orbán habe die Opposition in eine Falle gelockt: Die fehlende Zeitgrenze ist dazu da, die Opposition dagegen stimmen zu lassen. Sonst hätte sie die Verlängerung mitgetragen. So kann die regierungsnahe Presse die Opposition als „Verräter“ darstellen.
Das ganze Spektakel ist bereits Vorwahlkampf. Um sicherzugehen, dass die Opposition den Köder schluckt, tat die Regierung so, als habe sie die Fristen der Parlamentsarbeit übersehen, und brachte den Entwurf zu spät ein. Nun war plötzlich (für eine Abweichung von den Hausregeln) eine Vier- Fünftel-Mehrheit nötig. Ohne Opposition ging das nicht. Die lehnte erwartungsgemäß bei einer ersten Abstimmung am 23. März ab, sodass erst morgen der Ausnahmezustand in einer regulären Abstimmung mit der Zweidrittel-Mehrheit von Fidesz abgenickt werden kann. Artikel über den Tod der Demokratie in Ungarn wird es dann sicher zuhauf geben. Aber sie werden, wie so oft zuvor, sehr verfrüht sein.