Vor der Basilika loderten Fackeln. In der Abenddämmerung schritt Papst Franziskus im Nieselregen langsam zum Baldachin vor dem Petersdom hinauf. Dann wandte er sich an alle Christen, aber wohl auch an die Menschheit insgesamt. Vor Franziskus tat sich der menschenleere Petersplatz auf.
Es war eine historische Andacht. Der Papst betete in der Not und erbat Trost für Sterbende und Kranke. Angesichts der Coronakrise rief er zu mehr Gemeinsinn auf. Die Menschen sollten „neue Formen der Gastfreundschaft, Brüderlichkeit und Solidarität zulassen“, forderte das Oberhaupt der katholischen Kirche. „Alle sind wir aufgerufen, gemeinsam zu rudern, alle müssen wir einander beistehen“, sagte Franziskus. Die Menschen stünden vor einer „Zeit der Entscheidung“. Nun sei „zu entscheiden, was wirklich zählt und was vergänglich ist“, was notwendig und was nicht notwendig sei.
Franziskus mahnte zur Umkehr und kritisierte die Gleichgültigkeit gegenüber Not und Zerstörung. „Wir haben uns von Kriegen und weltweiter Ungerechtigkeit nicht aufrütteln lassen, wir haben nicht auf den Schrei der Armen und unseres schwer kranken Planeten gehört“, sagte er. „In unserer Gewinnsucht haben wir uns ganz von den materiellen Dingen in Anspruch nehmen lassen und von der Eile betäuben lassen“, fügte er hinzu. Es sei die Zeit, den „Kurs des Lebens“ wieder auf Gott und auf die Mitmenschen auszurichten. „Alleine gehen wir unter.“
Anschließend erteilte Franziskus den Segen urbi et orbi, „der Stadt und dem Erdkreis“, den der Papst traditionell zu Ostern, zu Weihnachten und nach seiner Wahl von der Mittelloggia des Petersdoms spendet. Jetzt machte Franziskus eine Ausnahme. Nur von wenigen Prälaten umgeben, stand er mit der Monstranz alleine vor der Basilika. Der Segen geht nach katholischer Lehre mit dem Ablass aller zeitlichen Sündenstrafen einher. Franziskus zitierte in seiner Predigt auch den berühmten und für die Ökumene grundlegenden Satz aus dem Johannesevangelium: „Alle sollen eins sein.“
Andacht vor Kruzifix und Ikone
Vor dem Dom hatten Vatikanmitarbeiter ein Kruzifix aus dem 14. Jahrhundert aufgestellt, das während der Pest 1522 in Rom Wunder gewirkt haben soll. Auch das Marienbild „Salus populi Romani“ aus der Basilika Santa Maria Maggiore, eine Ikone, die Franziskus häufig zum Gebet aufsucht, wurde vor dem Petersdom postiert. Vor beiden Bildern betete der Papst.
Der Vatikan hatte Kirche und Platz Anfang März für das Publikum gesperrt. Daran wird sich auch zu Ostern nichts ändern. Das höchste christliche Fest wird im Vatikan dieses Jahr ohne Gläubige stattfinden. Franziskus feiert auch die Karwochenliturgien in Sankt Peter ohne Beteiligung des Volkes.
Bereits sechs-Coronafälle im Vatikan
Die Seuche verändert den Alltag von Franziskus. Italienische Medien berichteten, der Papst sei vor Tagen zum zweiten Mal negativ auf das Virus getestet worden. Am Donnerstag wurde die sechste Corona-Infektion im Vatikan bekannt. Ein Fall soll einen Prälaten betreffen, der im Gästehaus Santa Marta lebt. Dort ist auch Franziskus untergebracht. Der 83 Jahre alte Pontifex nimmt seine Mahlzeiten in Santa Marta inzwischen in seinem Zimmer ohne Gesellschaft ein. Mitarbeiter trifft er aber regelmäßig. Laut einem Zeitungsbericht schüttelt Franziskus weiterhin Hände, Mitarbeiter reichten anschließend Desinfektionsgel. Seit drei Wochen finden Generalaudienz und Angelusgebet ohne Gläubige statt. Dafür können Gläubige die Morgenmessen des Papstes in Santa Marta live mitfeiern.
unserem Korrespondenten Julius Müller-Meiningen