Nach einem langen Arbeitstag bricht Céline immer öfter in Tränen aus. Die junge Frau ist Krankenschwester in der Intensivmedizin des Universitätsklinikums in Straßburg und mit jedem Tag wächst die seelische Belastung für Menschen wie sie, die an der Front kämpfen, wie es Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bezeichnet. Die Front, sie verläuft im Augenblick den Rhein entlang: Die Krankenhäuser im Elsass, in Straßburg, Mühlhausen und Colmar sind heillos überlastet.
Im künstlichen Koma
Noch hatte Céline auf ihrer Station keinen Toten zu beklagen, aber sie macht sich keine Illusionen über die Gründe. „Ich weiß, dass wir keine Patienten mehr annehmen, die über 80 sind“, erzählt die Krankenschwester in einem Protokoll, das die katholische Tageszeitung „La Croix“ veröffentlicht hat. „In meiner Abteilung sind die Patienten zwischen 45 und 72 Jahre alt und es geht ihnen, wenn ich ganz ehrlich bin, nicht gut.“ Alle habe man intubiert, in ein künstliches Koma versetzt und auf den Bauch gelegt.
Patienten werden ausgewählt
In Frankreich herrschen bereits italienische Verhältnisse. Die Triage, wie Katastrophen- und Kriegsmediziner die Auswahl von Patienten mit besseren Überlebenschancen bezeichnen, steht im Elsass längst auf der Tagesordnung. Ein Team von deutschen Ärzten hat das beim Informationsbesuch in Straßburg mit Schrecken festgestellt.
„Wir betreiben bereits seit zwei Wochen Triage. Patienten über 80, über 75, an manchen Tagen auch über 70 können nicht mehr intubiert werden, weil uns einfach die Beatmungsgeräte fehlen“, bedauert Brigitte Klinkert, Präsidentin des französischen Departements Haut-Rhin. Das sei auch der Grund dafür, warum sie die deutschen Krankenhäuser verzweifelt um Hilfe gebeten habe.
Mit dem Zug verlegt
Danach sind mehrere Dutzend Patienten in deutsche Krankenhäuser geflogen worden. In Mühlhausen ist außerdem seit Mittwoch das Militärlazarett funktionsfähig. Am Donnerstag sind transportierfähige Patienten in einem TGV-Hochgeschwindigkeitszug in andere Regionen Frankreichs gebracht worden. „All das hilft uns, aber es reicht nicht“, sagt Klinkert. „Die Lage ist katastrophal. Und wir haben den Höhepunkt der Epidemie noch nicht mal erreicht.“
Im Departement Haut-Rhin sei die Zahl der Intensivbetten mit Möglichkeit der künstlichen Beatmung gestern um 17 Betten auf 104 gesteigert. „Aber allein im Krankenhaus Mühlhausen sind gestern 15 Patienten eingeliefert worden, die intubiert werden müssen“, erzählt Klinkert. Die Atemgeräte sind das Nadelöhr. In Frankreich gibt es keine Firma, die sie produziert. Grossisten stehen vor leeren Lagern. „Die Nachfrage ist kolossal. Jede Woche werden hunderte verlangt“, berichtete Christophe Hentze, französischer Generaldirektor des deutschen Herstellers Löwenstein Medical bereits Mitte März und sprach von „wochenlangen Wartezeiten“.
Wie soll man entscheiden?
In Frankreich beschäftigt sich längst die Ethikkommission mit der Frage, nach welchen Kriterien man Patienten aussuchen sollte. Dass die Covid-19-Patienten, die in den Genuss einer intensivmedizinischen Versorgung kommen, allein nach dem Kriterium ihres Alters ausgewählt werden, schockiert Mediziner wie Philippe Juvin, Leiter der Notaufnahme des Pariser Krankenhauses Pompidou. „Das ist unsere Angst, unser Albtraum und total unvorstellbar“, sagte Juvin am Donnerstagmorgen im Radiosender Europe 1. Noch sei man in Paris nicht in derselben Situation wie die elsässischen Kollegen, so Juvin. Der Arzt plädiert aber eindringlich dafür, das Urteil nach der Gesamtverfassung des Patienten und seiner Überlebenschancen zu treffen, nicht allein aufgrund seines Alters.
Massensterben in Altenheimen
Die Realität ist in Frankreich bereits eine andere. In vielen Altenheimen ist das Virus präsent. In einzelnen Häusern ist es bereits zu einem Massensterben der Insassen gekommen, wie beispielsweise im Pariser Heim der Fondation Rothschild, wo in kürzester Zeit 16 Menschen gestorben sind. 81 weitere sind infiziert, viele in einem sehr kritischen Zustand.
Infizierte Alte werden in Frankreich nicht mehr aus den Heimen in die überlasteten Krankenhäuser gebracht. Angehörige können sie nicht besuchen, müssen sich per Skype oder Telefon von ihnen verabschieden, bevor sie einsam sterben. Das Personal ist mit dieser Situation überfordert und verlangt verzweifelt nach Spritzen und Betäubungsmitteln, um die Sterbenden weiter human begleiten zu können. Auch das deutsche Ärzteteam berichtet, dass infizierten Patienten in Pflegeheimen wie auch Rettungsdienste bei Infizierten über 80 „schnelle Sterbebegleitung mit Opiaten und Schlafmitteln“ leisteten.
Weiterarbeiten
Überrascht war das Team nach dem Besuch in Straßburg auch darüber, dass infizierte Ärzte und Pflegekräfte in Frankreich weiterarbeiten dürfen. Die deutschen Katastrophenmediziner fordern deshalb, von den Vorgaben des Robert-Koch-Instituts abzuweichen und eine klar definierte Sonderrolle für Fachpersonal festzulegen, um Menschenleben zu retten. Der Leiter der Infektionsabteilung des Pariser Krankenhauses Bichat sagt im Interview mit der Tageszeitung Le Figaro: „Wenn wir jedes Mal im Krankheitsfall aufhören würden, zu arbeiten, würde das Krankenhaus bald zusammenbrechen.“ Wer kaum Symptome habe und in Form sei, mache weiter. „Für diejenigen, die arbeiten müssen, ist die Maske ein sehr wirksames Mittel der mobilen Ausgangssperre.“