Ausgangssperren, geschlossene Schulen, Geschäfte und Lokale: Seit Wochen kämpft die Regierung in Athen gegen die Ausbreitung des Coronavirus. Aber der Situation in den überfüllten Migrantenlagern widmeten die Behörden nur wenig Aufmerksamkeit. Dabei ist dort die Ansteckungsgefahr besonders groß. „Wenn das Virus in den überfüllten Lagern ankommt, werden die Konsequenzen verheerend sein“, warnt Fotini Kokkinaki von der Hilfsorganisation HumanRights360. „Wir müssen handeln, bevor es zu spät ist.“
Bisher gibt es, so die offizielle Darstellung der Regierung, in den Lagern auf den Inseln keinen bekannten Infektionsfall. Das sagt aber wenig, denn es finden keine systematischen Tests statt. Nur bei Neuankömmlingen wird die Temperatur gemessen. In den fünf Erstaufnahmelagern auf Samos, Lesbos, Leros, Chios und Kos hausen nach offiziellen Abgaben 40.712 Bewohner – eingepfercht in Camps, die für die Unterbringung von 8896 Menschen ausgelegt sind. Im berüchtigten Lager Moria auf Lesbos leben 19.272 Migranten. Weil das aus Wohncontainern gebaute offizielle Lager überfüllt ist, hausen gut 15.000 Menschen, darunter viele Familien, in angrenzenden Olivenhainen. Sie haben dort Zelte aufgeschlagen oder sich Verschläge aus Latten, Pappe und Plastikplanen gezimmert.
Besuchsverbote, eingeschränkte Bewegungsfreiheit
Fachleute fürchten, dass das Virus längst in Moria und den anderen Lagern grassiert. Das griechische Ministerium für Migration versucht, mit einem Zwölf-Punkte-Plan die Gefahr zu bannen. Dazu gehören Besuchsverbote in den Camps für 30 Tage. Sie gelten auch für Mitarbeiter von NGOs, die für die Versorgung der Menschen eine wichtige Rolle spielen. Die Bewegungsfreiheit der Lagerbewohner wird eingeschränkt. Sie dürfen die Camps nur noch in kleinen Gruppen zwischen 7 Uhr und 19 Uhr verlassen, etwa zum Einkaufen.
Mit Flugblättern und Lautsprecherdurchsagen werden die Lagerbewohner informiert, wie sie die Ansteckungsgefahr reduzieren können. Sportveranstaltungen und der Schulunterricht in den Camps werden eingestellt. Die sanitären Einrichtungen und Gemeinschaftsräume sollen regelmäßig desinfiziert werden. Auch die Einrichtung von Isolierstationen ist geplant. Es ist aber schwer vorstellbar, wie das in den chaotischen Camps umgesetzt werden soll.
Einige Maßnahmen klingen grotesk. So wird den Bewohnern empfohlen, Abstand voneinander zu halten und Ansammlungen zu meiden – wie soll das gehen? Das Lager Vathy auf Samos wurde für 648 Bewohner gebaut, beherbergt aber 7291 Menschen. Hier stehen die Bewohner oft stundenlang bei der Essensausgabe an – buchstäblich hautnah. Die Antwort der Regierung auf diese Zustände klingt zynisch: Um die Ansteckungsgefahr zu reduzieren, sollen die Lagerbewohner künftig nur einmal am Tag mit Essen versorgt werden.
Fachleute warnen vor unkontrollierbaren Zuständen. „Unter den gegebenen Umständen wären Tausende Menschenleben in Gefahr“, sagt Antigone Lyberaki von der Hilfsorganisation Solidarity Now. „Es gibt ein Zeitfenster, mit der Situation umzugehen, aber dieses Fenster schließt sich schnell.“ Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch appellierte an die Regierung, die Insellager sofort zu evakuieren. Die EU-Kommission forderte Griechenland auf, besonders Schutzbedürftige wie Kranke und Familien mit Kindern aus den Lagern zu holen.
Eine Wasserzapfstelle für 1300 Menschen
Auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF), die in den Camps auf Chios, Samos und Lesbos versucht, eine medizinische Minimalversorgung zu leisten, fordert eine Räumung: „Die entsetzlichen Lebensbedingungen sind ein idealer Nährboden für Covid-19.“ Hilde Vochten, medizinische Koordinatorin der Projekte von Ärzte ohne Grenzen in Griechenland, berichtet: „In einigen Bereichen des Lagers Moria auf Lesbos gibt es nur eine Wasserzapfstelle für 1300 Bewohner, und Seife ist nicht erhältlich.“ Fünf- oder sechsköpfige Familien müssten auf drei Quadratmeter Fläche schlafen. „Für sie ist es schlicht unmöglich, die empfohlenen Maßnahmen zu befolgen.“ Vochten fürchtet, es wäre unmöglich, einen Ausbruch in einem der Lager einzudämmen: „Bisher haben wir noch keinen Notfallplan zu Gesicht bekommen, mit dem sich die Menschen, die dort leben müssen, schützen und behandeln ließen.“
Doch die Regierung steht vor einem kaum lösbaren Problem: Sie weiß nicht, wohin mit den mehr als 40.000 Migranten auf den Inseln. Denn auch die Lager auf dem Festland sind längst überfüllt. Und an eine Umverteilung der Geflüchteten auf andere EU-Länder ist angesichts der Corona-Epidemie noch weniger zu denken als noch vor einigen Wochen.
unserem Korrespondenten Gerd Höhler aus Athen