Im Jänner hat Wladimir Putin völlig überraschend eine Verfassungsreform in Aussicht gestellt. Innerhalb weniger Wochen war diese ausgearbeitet und vom Parlament abgesegnet. Am 22. April hätte das Volk noch bei einer - rechtlich nicht bindenden - Abstimmung seinen Segen geben sollen. Doch dann kam Corona: Russland verschiebt wegen der Coronavirus-Pandemie die Abstimmung über die größte Verfassungsänderung in der Geschichte des Landes. Das kündigte Putin am Mittwoch bei einer Fernsehansprache an. Einen neuen Termin werde es später geben.
Abstimmen mit Virus?
Der vom Kreml angestrebte Zeitplan war wegen der Ausbreitung des Coronavirus zuletzt stark unter Druck geraten. Immer mehr Russen machen sich Sorgen, die Gefahren durch das Virus waren in Russland lange verharmlost wurden. So sah man zumindest offiziell keine Probleme, das Volk im April geballt auf die Straßen zu schicken.
Jetzt zieht der Kreml doch noch die Reißleine - und der Kreml-Chef wechselt die Strategie: Er tritt jetzt als tatkräftiger Katastrophen-Manager in Erscheinung - und schlüpft dafür natürlich sogar in einen gelben Schutzanzug.
Senioren müssen zu Hause bleiben
Auch einige Maßnahmen werden nun doch gesetzt: In Moskau müssen von Donnerstag an alle über 65-Jährigen zu Hause bleiben, insgesamt betrifft das etwa 1,8 Millionen Menschen. Bürgermeister Sergej Sobjanin versprach jedem betroffenen Senioren 4000 Rubel als Entschädigung für die Ausgangssperre, umgerechnet rund 50 Euro, und den Familien und Betrieben eine Sonderunterstützung. Der Kreml beeilte sich zu betonen, dass die Regel nicht für Präsident Putin gelte - er ist 67 Jahre alt, aber natürlich unabkömmlich. Putin selbst erklärte die kommende Woche für arbeitsfrei. Die Menschen sollten jetzt "besser zu Hause bleiben", so der Staatschef.
Offiziell hatte Russland am Mittwoch 658 Coronavirus-Fälle, davon 410 in Moskau. Bürgermeister Sobjanin, der die Virus-Krisengruppe leitet, sagte nun erstmals öffentlich, dass die reale Anzahl der Erkrankten wohl viel größer sei. "Das Testvolumen ist sehr niedrig", so Sobjanin, niemand auf der Welt kenne das reale Bild. Dennoch überraschte Putin sein Volk mit der Ankündigung, Italien in der Corona-Krise helfen zu wollen: Putin schickte 100 Spezialisten und neun Militärflugzeuge mit technischer Ausrüstung und Desinfektionsmitteln nach Italien - sie sollen das Land im Kampf gegen die Coronakrise unterstützen - und vermutlich auch Erkenntnisse für den Umgang mit dem Virus gewinnen.
Demonstrationen verboten
Kritiker werfen Putin wegen der Änderung der Verfassung einen "Staatsstreich" vor, und Corona kommt da nicht ganz ungelegen: Obwohl die Moskauer zwar weiterhin mit der meist vollbesetzten U-Bahnen fahren dürfen, sind Demonstrationen wegen der Pandemie verboten. Putins jetzige Amtszeit als Kremlchef endet 2024 und wäre laut bisheriger Verfassung seine letzte. Seine Verfassungsreform an sieht eine Reihe sozialer Veränderungen vor: So sollen etwa der Mindestlohn, die jährliche Pensionsanpassung oder auch der Gottesbezug in der Verfassung verankert werden. Vor allem aber ist vorgesehen, die Macht des Präsidenten auszubauen - was aber nicht so einfach ist. Immerhin ist Putin seit 20 Jahren an der Macht.
Daher dachte man sich ein ungewöhnliches Manöver aus: Die Amtszeiten Putins werden neu gezählt - nämlich einfach auf Null gesetzt. Damit könnte Putin für zwei weitere sechsjährige Amtsperioden kandidieren und dann bis 2036 durchregieren. Das Vorhaben wurde vom Parlament im Rekordtempo beschlossen und vom Präsidenten bereits unterschrieben. Dass der Plan ad acta gelegt wird, ist auszuschließen. Die Corona-Krise kam Putin in die Quere. Aufhalten wird sie ihn nicht.