Ihr Auftritt im Staatsfernsehen war der Alarmruf für die Islamische Republik. Zur besten Sendezeit präsentierte die Wissenschaftsjournalistin Afruz Eslami, selbst ausgebildete Ärztin, drei mögliche Corona-Szenarien für ihre Heimat, die ein Hochschullehrer der renommierten Sharif Universität für Technologie in Teheran berechnet hatte. Im günstigsten Fall, wenn sich die Bevölkerung strikt an die Kontakt- und Hygieneregeln halte, die medizinische Versorgung funktioniere und alle Risikogebiete unter Quarantäne gestellt würden, könnten sich 120.000 Iraner infizieren und 12.000 sterben. Bei mittelmäßiger Disziplin wären es 300.000 Infizierte und 110.000 Tote. Wenn die Bevölkerung ihr Verhalten dagegen nicht ändere, würden das Gesundheitssystem zusammenbrechen und am Ende 3,5 Millionen Menschen sterben, das zumindest prognostizieren die Computermodelle des Ökonomie-Professors Alinaghi Mashayekhi.
Die Epidemie geleugnet und kleingeredet
Auch wenn dessen wissenschaftliche Annahmen unklar sind, kurz vor dem persischen Neujahrsfest Nowruz bekamen die 82 Millionen Iraner damit erstmals eine Vorstellung von dem Ernst der Lage. Wochenlang hatte das Regime die Corona-Krise geleugnet und heruntergespielt. Der Oberste Revolutionsführer Ali Khamenei tat die Seuche noch als von außen gesteuerten „biologischen Angriff“ ab, als bereits neun von zehn im Nahen Osten diagnostizierten Corona-Fällen aus dem Iran stammten. Am Mittwoch meldete Teheran offiziell 17.361 Infizierte und 1135 Tote, nach China und Italien die dritthöchste Zahl auf dem Globus.
Für Rick Brennan allerdings, WHO-Notfalldirektor für das östliche Mittelmeer, der den Iran kürzlich besuchte, liegen die wirklichen Ziffern mindestens fünfmal höher als angegeben, also bei deutlich über 5000 Toten. In Qom, dem Epizentrum der Katastrophe, lassen die Behörden derzeit zusätzliche Gräberfelder anlegen, wie Satellitenbilder belegen.
Trotzdem weigert sich die Führung in Teheran, das am Freitag beginnende Nowruz-Fest und die anschließenden beiden Ferienwochen zu nutzen, um das gesamte Land stillzulegen. Stattdessen sind die Einschränkungen im öffentlichen Leben nach wie vor eher lax. Cafés und Restaurants sind offen, in den Bazaren drängeln sich die Kunden. Reisewarnungen werden ignoriert, ein Verhalten, was der stellvertretende Gesundheitsminister Alireza Raisi am Mittwoch bei seiner täglichen Pressekonferenz als „sehr befremdlich” anprangerte.
Präsident Hassan Rohani jedoch lässt es dabei, an die Bevölkerung zu appellieren, in den bevorstehenden Ferien zu Hause zu bleiben und auf die üblichen Familientreffen zu verzichten. Ganze Städte unter Quarantäne zu stellen, lehnt seine Regierung als ineffektiv ab, auch weil sie fürchtet, deren Bewohner nicht mehr mit Lebensmitteln versorgen zu können. Lediglich die traditionellen Frühlingsfeuer, mit denen die Iraner den Nowruz-Auftakt feiern, wurden verboten. Jedes Jahr erleiden Menschen bei diesem Spektakel schwere Verbrennungen, wenn sie über die Flammen springen, und müssen ins Krankenhaus, die durch die Virusseuche bereits extrem strapaziert sind.
Im gesamten Land fehlt es an einer klaren Strategie, weil sich die verschiedenen Machtzentren der Islamischen Republik nicht auf eine gemeinsame Linie einigen können. In der konservativen Zwei-Millionen-Metropole Mashad im entfernten Osten sträuben sich die religiösen Autoritäten, die Stadt während der Nowruz-Feiertage komplett für Pilger abzuriegeln, während die Stadtväter vor einer „humanitären Katastrophe“ warnen. Das Justizministerium kündigte an, 85.000 Gefangene würden vorübergehend nach Hause entlassen, um die Ausbreitung der Seuche in den Haftanstalten zu stoppen. Gleichzeitig nahmen die Revolutionären Garden zahlreiche Journalisten fest, denen sie vorwarfen, Gerüchte zu verbreiten und das Ausmaß der Krise zu übertreiben.
Erst Anfang dieser Woche, also mehr als anderthalb Monate nach den ersten iranischen Corona-Toten, wurden gegen den hartnäckigen Widerstand des örtlichen Klerus endlich die großen Pilgerstätten in Qom und Mashad geschlossen, nicht ohne wütende Proteste religiöser Zeloten, die die Sperren niederrissen und versuchten, sich mit Gewalt Zugang zu verschaffen. „Niemand in den letzten 14 Jahrhunderten hat es geschafft, diese Tore zu schließen“, wiegelte in Qom einer der Wortführer die Menge per Megaphon auf. „Noch nicht einmal während des Mongolensturms.“
Auch in Ägypten droht Schlimmes
Neben dem Iran gilt Ägypten als die zweite bevölkerungsreiche Nation im Nahen Osten, deren Corona-Zahlen wahrscheinlich nicht der Realität entsprechen. „Wir können die Krankheit nur unter Kontrolle bringen, wenn wir Zugang zu Informationen haben, die uns erlauben, die Dynamik in der Region zu verstehen“, erklärte in Kairo Ahmed al-Mandhari, WHO-Chef für das östliche Mittelmeer. Nach offiziellen Angaben sind unter den 100 Millionen Bewohnern am Nil bisher 196 Menschen erkrankt und sechs gestorben. Die nationale Fluglinie Egypt Air unterbricht von Donnerstag an ihren Flugbetrieb bis Ende März. Alle Schulen und Universitäten bleiben bis auf Weiteres geschlossen. Als erste Badeorte am Roten Meer wurden am Dienstag Hurghada und Marsa Alam unter Quarantäne gestellt. Am gleichen Tag entzogen die ägyptischen Behörden der Korrespondentin des britischen „Guardian“ ihre Akkreditierung. Sie hatte eine Forschergruppe aus Toronto zitiert, die die Zahl der Corona-Fälle am Nil auf etwa 19.000 schätzt, mit einer statistischen Schwankungsbreite zwischen 6000 und 45.000.
Neben Ägypten stellten auch Marokko und Tunesien als weitere Touristenländer der Region ihren Flugverkehr weitgehend ein. In Tunesien gilt für die kommenden zwei Wochen eine generelle Ausgangssperre zwischen 18 Uhr und 6 Uhr früh.
unserem Korrespondenten Martin Gehlen