Zwei Stunden, dann war Schluss. Gelöst ist der Streit über das gemeinsame Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei nach dem Treffen zwischen Präsident Recep Tayyip Erdogan und den EU-Spitzen Ursula von der Leyen und Charles Michel nicht. Doch es gibt positive Signale - von beiden Seiten.
Wo über Jahre Stillstand und gegenseitige Vorwürfe herrschten, hat Erdogan mit seiner Politik des maximalen Drucks für eine neue Dynamik gesorgt. Nachdem er Ende Februar die Grenze zur EU für offen erklärt hat und Tausende Migranten an die griechische EU-Grenze drängten, traf EU-Ratschef Charles Michel sich nun schon zum zweiten Mal innerhalb einer Woche mit ihm. Und schon am nächsten Dienstag steht Erdogan zufolge ein Treffen mit Kanzlerin Angela Merkel, dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und eventuell dem britischen Premier Boris Johnson an. Es wird klar: Türkische Anliegen finden Gehör zurzeit.
Nach dem Treffen in Brüssel heißt es tags darauf aus EU-Kreisen, von türkischer Seite sei eine gewisse "Frustration" über die Umsetzung des Abkommens deutlich geworden. Deshalb soll eine Arbeitsgruppe nun erstmal klären, wo man steht. Paragraf für Paragraf soll von Fachleuten geprüft werden, wo es Differenzen bei der Umsetzung gibt. Es sei wichtig, dass nicht über Zahlen und Fakten gestritten werde, sagte EU-Kommissionschefin von der Leyen nach dem Treffen. Bei der Interpretation dieser Fakten könne man dann natürlich verschiedener Meinung sein.
Erdogan habe bei dem Krisentreffen Brüssel erneut deutlich gemacht, dass die zugesagten sechs Milliarden Euro zur Versorgung syrischer Flüchtlinge im Land zu langsam ausbezahlt würden und es zu viele Hürden gebe, hieß es aus EU-Kreisen. Der türkische Präsident reiste zwar ohne Presseerklärung aus Brüssel ab, schien aber doch ganz zufrieden mit dem Treffen. Man wolle eine neue "Phase" mit der EU beginnen, sagte er auf dem Rückflug vor türkischen Journalisten. Er behauptete sogar, die EU-Spitzen hätten eingesehen, dass die Türkei die Verpflichtungen des Flüchtlingspakts eingehalten habe und die EU zu langsam agiere.
Die Türkei fühlt nicht nur beim Geld im Stich gelassen, sondern auch bei anderen Teilen des Abkommens - etwa bei der Visabefreiung für Türken und der Vertiefung der Zollunion. Dass es damit nicht vorangeht, daran ist Ankara allerdings nicht unschuldig. Die Visafreiheit etwa ist an Bedingungen geknüpft. Die Türkei soll zum Beispiel ihre Anti-Terror-Gesetze reformieren, die sie immer wieder auch gegen die Opposition einsetzt. Geschehen ist das bisher nicht.
Fortschritt beim Thema Visafreiheit und Zollunion wären für Erdogan innenpolitisch ein Erfolg. Die türkische Wirtschaft schwächelt, vor allem Lebensmittel werden immer teuer. Ein Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der EU könnte Erdogan Luft verschaffen.
Überarbeitung des Flüchtlingspakts
Die Türkei fordert nun die Überarbeitung des Flüchtlingspakts - bestenfalls schon bis zum EU-Gipfel am 26. März. Bis dahin wolle man einen Fahrplan entwickeln, sagte Außenminister Mevlüt Cavusoglu. Jüngste Äußerungen Merkels geben Erdogan und seiner Regierung Grund zur Hoffnung: Sie setze sich dafür ein, das EU-Türkei-Abkommen in eine neue Stufe zu überführen.
Mehr Geld habe Erdogan nicht gefordert, hieß es in Brüssel. Aber ein Folgetreffen, für das es noch kein Datum gebe. Erdogan brauche eine Perspektive. Diese Perspektive braucht er vor allem innenpolitisch. Die Akzeptanz für die insgesamt rund vier Millionen Flüchtlinge im Land schwindet. Er kann seiner Klientel nur noch schwer erklären, warum die Türkei die Hauptlast tragen soll.
Gibt die EU Erdogans Druck nach? Zumal der in den vergangenen Monaten kein einfacher Partner war. In Brüssel ist man der Auffassung, dass auch die EU zur Deeskalation beitragen müsse. Man will sich nicht erpressen lassen, ist dem türkischen Präsidenten aber auch nicht hilflos ausgeliefert. Auf Erdogans Vorgehen an der türkisch-griechischen Grenze reagierte die Staatengemeinschaft geschlossen: Illegale Grenzübertritte wurden unterbunden.
Hinzu kommt: Bisher sind 1,3 Milliarden Euro des zugesagten Hilfsgelds noch nicht vertraglich vergeben worden. Von der Leyen und Michel dürften Erdogan klargemacht haben: Wenn er nicht dafür sorgt, dass der Druck auf die griechische Grenze nachlässt, wird dieses Geld nicht fließen.
Ein Signal der Entspannung hatte Erdogan bereits am Wochenende gesendet: Die türkische Küstenwache muss Migranten wieder an der Überfahrt auf die griechischen Inseln hindern. Und auch an der Landgrenze beruhigte sich die Situation zuletzt vorläufig.