Die EU-Grenzschutzagentur Frontex hat am Sonntag wegen eines erhöhten Zustroms von Migranten die Alarmstufe für alle EU-Grenzen zur Türkei auf "hoch" gesetzt. Zugleich verstärkte Griechenland seine Einheiten entlang der Grenze zur Türkei weiter. Die Regierung in Athen warf der Türkei vor, Migranten mit falschen Informationen dazu zu bewegen, nach Griechenland und damit in die EU zu kommen.
Nach UN-Angaben harren rund 13.000 Migranten auf der türkischen Seite bei Kälte aus. EU-Migrationskommissar Margaritis Schinas forderte eine baldige Sondersitzung der EU-Innenminister. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte am Samstag gesagt, die Grenzen zur EU seien für Migranten geöffnet.
Mit Wasserwerfern und Tränengas gegen Flüchtlinge
Die griechischen Sicherheitsbehörden befürchteten, dass Tausende Migranten, die seit Freitag auf der türkischen Seite der Grenze campieren, massenweise versuchen würden, nach Griechenland zu kommen. Dies ist nach Berichten des Staatsrundfunks ERT bisher nicht geschehen. Auch an der bulgarischen Grenze blieb es ruhig. Kein einziger Migrant passierte der bulgarischen Regierung zufolge die Grenze.
Am Sonntag setzte die griechische Polizei schwere Wasserwerfer und Tränengas ein, um die Migranten am Übertritt zu hindern. Die Migranten hatten laut Medienberichten zuvor Steine und andere Gegenstände auf die Bereitschaftspolizei geschleudert. Ein Polizist soll nach Berichten des griechischen Rundfunks verletzt worden sein.
Inselbewohner lassen Migranten nicht an Land
Unterdessen ist die Lage auf der griechischen Insel Lesbos Sonntagabend eskaliert. Nach Berichten von AFP-Fotografen ließen wütende Inselbewohner rund 50 Migranten in einem Schlauchboot im Hafen von Thermi nicht an Land. Sie schrien "Geht zurück in die Türkei", beschimpften einen Vertreter des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR), einige griffen Journalisten und Fotografen an. Unter den Flüchtlingen waren auch Kinder. Eine weitere Gruppe Bewohner versuchte unterdessen, einem Polizeibus mit Migranten mit Ketten und Steinen den Weg in das heillos überfüllte Lager Moria zu versperren, wie die griechische Nachrichtenagentur ANA berichtete. Das Lager wurde ursprünglich für 3.000 Menschen gebaut, inzwischen leben dort 19.000.
Nach AFP-Zählung kamen allein auf Lesbos am Sonntag rund zehn Boote mit etwa 500 Menschen an. Laut ANA landeten 120 Flüchtlinge auf der Insel Chios und 80 weitere auf Samos. Die griechische Küstenwache zählte am Vortag 180 Neuankömmlinge auf Lesbos und Samos.
Der griechische Verteidigungsminister Nikos Panagiotopoulos warf der Türkei vor, den Zustrom von Migranten an der gemeinsamen Grenze organisiert zu haben. Allein am Evros hinderte die griechische Polizei nach neuesten Angaben knapp 10.000 Migranten daran, diese Grenze zu überqueren, wie das Migrationsministerium in Athen am Sonntag mitteilte. Das griechische Außenministerium sprach von einer gezielten Desinformationskampagne der Türkei.
Türkei bricht Abkommen
Die Türkei hat rund 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. In einem Flüchtlingspakt mit der EU von 2016 hat die Türkei eigentlich zugesagt, gegen illegale Migration vorzugehen. Das Abkommen sieht zudem vor, dass die EU alle Flüchtlinge und Migranten, die illegal über die Türkei auf die griechischen Inseln kommen, zurückschicken kann. Im Gegenzug nimmt die EU regulär Syrer aus der Türkei auf. Ankara erhält zudem finanzielle Unterstützung für die Versorgung der Flüchtlinge im Land. Noch am Freitag hatte die EU deutlich gemacht, dass sie von der Türkei erwarte, dass sie die Vereinbarung einhalte.
Aus Regierungskreisen in Athen hieß es, der türkische Präsident instrumentalisiere die Millionen Migranten in seinem Land, um die EU zu zwingen, ihm mehr Geld zu zahlen, damit er seine Politik und Militäraktion in Syrien fortsetzen könne. Griechenland habe mit dem Krieg in Syrien nichts zu tun und werde nicht den Preis dafür zahlen, hatte Regierungschef Mitsotakis am Freitag erklärt.
Es kursieren sehr unterschiedliche Zahlen
Der türkische Innenminister Süleyman Soylu schrieb am Sonntag auf Twitter, bis zum frühen Abend hätten mehr als 100.000 Migranten von der türkischen Provinz Edirne aus die Grenze zur EU passiert. Der türkische Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun schrieb auf Twitter, syrische Flüchtlinge seien nicht dazu gezwungen, die Türkei zu verlassen. Sie stünden nach wie vor unter "temporärem Schutz". "Sie können bleiben, wenn sie wollen. Sie können gehen, wenn sie wollen."
Verstärkt wurden nach griechischen Regierungsangaben auch die Patrouillen in den Meerengen zwischen den griechischen Inseln und der türkischen Ägäisküste. Die stürmischen Winde der vergangenen Tage haben nachgelassen, die Regierung in Athen befürchtet nun einen neuen Migrantenzustrom, diesmal über die Ägäis.
Nach Angaben der UN-Organisation für Migration (IOM) harren auf der türkischen Seite der Grenze mehr als 13.000 Menschen aus. Ihnen stehe eine weitere kalte Nacht mit Frost bevor, schrieb die Organisation auf Twitter. Unter ihnen sollen auch viele Kinder sein. Zahlreiche Männer, Frauen und Kinder seien zu Fuß unterwegs und versuchten, wieder zurück in ihre Heimat zu kommen. "Einige kündigten ihre Arbeit und ließen alles hinter sich, weil sie sicher waren, nach Europa zu kommen", hieß es von der Organisation.
EU-Migrationskommissar Margaritis Schinas forderte eine baldige Sondersitzung der EU-Innenminister. Zudem berate er weiter mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der EU-Innenkommissarin Ylva Johansson und dem griechischen Regierungschef Kyriakos Mitsotakis über die Situation, fügte der EU-Vizekommissionspräsident hinzu. Schinas wird am Montag eigenen Worten zufolge in Berlin sein.
Borissow trifft Erdogan, Frontex stockt auf
Bulgariens Regierungschef Boiko Borissow reist am Montag nach Ankara, um mit dem türkischen Präsidenten Erdogan über die Lage in Syrien und Flüchtlingsbewegungen zu sprechen. Wie die bulgarische Regierung am Sonntag mitteilte, werden die beiden bei einem Abendessen "Handlungen erörtern, die zur Bewältigung der Krise in Syrien und zum Stopp des Migrationsdrucks beitragen werden".
Frontex hat nach eigenen Angaben knapp 400 Mitarbeiter auf den griechischen Inseln und 60 weitere in Bulgarien stationiert. Ein kleines Kontingent halte sich auf griechischer Seite an der Grenze zur Türkei auf. Es werde außerdem die Lage auf Zypern beobachtet.
Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl forderte "eine an den Grundsätzen von Solidarität und Humanität orientierte europäische Lösung, die die Rechtsgrundsätze Europas beachtet". Wasserwerfer und Gewalt gegenüber Schutzsuchenden seien inakzeptabel, erklärte die Organisation am Sonntag. Pro Asyl verlangte, umgehend Schutzsuchende aus Griechenland in Deutschland und anderen EU-Staaten aufzunehmen.