Der militärische Konflikt zwischen der Türkei und der Regierung des syrischen Machthabers Bashar al-Assad hat sich dramatisch zugespitzt. Bei Luftangriffen auf Stellungen der türkischen Armee in der nordwestsyrischen Provinz Idlib wurden nach türkischen Angaben mindestens 29 Soldaten getötet.
Alle bekannten Ziele der syrischen Regierungstruppen in der Region seien von der türkischen Armee aus der Luft sowie vom Boden aus angegriffen worden, teilte Erdogans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun mit. Diese Angriffe würden von der türkischen Armee fortgeführt. "Unsere tapferen Soldaten werden gerächt werden", erklärte Altun. Er appellierte zugleich an die NATO und die internationale Gemeinschaft, die von den syrischen Regierungstruppen in Idlib begangenen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" zu stoppen.
Der Sprecher der in der Türkei regierenden AK-Partei Erdogans, Ömer Celik, sagte im Fernsehen, die NATO müsse an der Seite der Türkei stehen. Gleichzeitig drohte er der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu zufolge kaum verhohlen damit, den Flüchtlingen im Land die Grenzen zu öffnen: "Unsere Flüchtlingspolitik ist dieselbe, aber hier haben wir eine Situation. Wir können die Flüchtlinge nicht mehr halten", sagte er. Es hatte in der Nacht in Sozialen Medien Gerüchte gegeben, dass die Türkei ihre Grenzen bereits geöffnet habe. Ein Insider sagte der Nachrichtenagentur Reuters, die türkische Polizei, Küstenwache und Grenzschützer seien angewiesen worden, sich bei ihrer Kontrolltätigkeit zurückzuhalten.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg rief die Konfliktparteien in Nordwestsyrien zur Deeskalation auf. Sie müssten die "gefährliche Lage" entschärfen und eine weitere Verschlimmerung der "schrecklichen humanitären Lage" in der Region vermeiden, erklärte Stoltenberg nach Angaben seiner Sprecherin Oana Lungescu. Der NATO-Generalsekretär hatte zuvor mit dem türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu telefoniert. Die Türkei ist im Gegensatz zu Syrien NATO-Mitglied.
Der Gouverneur der an Syrien angrenzenden türkischen Region Hatay, Rahmi Dogan, teilte mit, dass es bei den Luftangriffen auf türkische Stellungen in Idlib neben den 29 Toten noch weitere 36 verletzte türkische Soldaten gegeben habe. Sie seien in Hatay ins Krankenhaus gebracht worden. In einer vorherigen Zwischenbilanz hatte der Gouverneur noch von 22 Todesopfern unter den türkischen Verbänden gesprochen.
49 türkische Soldaten getötet
Mit den jüngsten Todesopfern sind in diesem Monat den türkischen Angaben zufolge bereits mindestens 49 türkische Soldaten in Syrien getötet worden. Die Türkei hat im Rahmen eines im Jahr 2018 geschlossenen Abkommens mit Russland zwölf militärische Beobachtungsposten in der Provinz Idlib. Präsident Erdogan hatte die Regierung in Damaskus wiederholt aufgefordert, ihre Truppen aus dem Umfeld der türkischen Posten abzuziehen. Der türkische Staatschef setzte dafür eine Frist bis Monatsende, also bis diesen Samstag.
In Idlib und benachbarten Provinzen im Nordwesten Syriens geht die syrische Armee seit Dezember mit militärischer Unterstützung Russlands verstärkt gegen islamistische und jihadistische Milizen vor. Assad will die letzte Milizen-Hochburg im Land wieder unter seine Kontrolle bringen. Ein Teil der Rebellengruppen in Idlib wird von der Türkei unterstützt.
Im Zuge der Offensive war es der syrischen Regierungsarmee in den vergangenen Wochen gelungen, mehrere Ortschaften in Idlib unter Kontrolle zu bringen. Von der Türkei unterstützte Milizen eroberten am Donnerstag jedoch die strategisch wichtige Stadt Saraqeb zurück.
Der deutsche Außenminister Heiko Maas warf in einer Sitzung des UNO-Sicherheitsrats in New York Assad und Moskau Kriegsverbrechen in Nordwestsyrien vor. Die Armeen beider Länder bombardierten "zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser und Schulen". Russland und Syrien hätten als Konfliktparteien die Pflicht, die Zivilbevölkerung zu schützen, mahnte Maas: "Willkürliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung sind Kriegsverbrechen."
Fast eine Million auf der Flucht
Seit Anfang Dezember sind nach UNO-Angaben rund 950.000 Menschen aus den umkämpften Gebieten in Nordwestsyrien geflohen, darunter eine halbe Million Kinder. Viele von ihnen leben unter katastrophalen Bedingungen in der Grenzregion zur Türkei. Kaltes Winterwetter verschärft die Lage. Der russische Botschafter bei der UNO, Wassili Nebensja, erklärte jedoch, andere Sicherheitsratsmitglieder versuchten, "die Situation zu dramatisieren".
Die Türkei hat in den vergangenen Jahren 3,7 Millionen Flüchtlinge aus dem 2011 begonnenen syrischen Bürgerkrieg aufgenommen, zuletzt aber ihre Grenzen geschlossen. 2015/16 kam es in Europa zu einer sogenannten Flüchtlingskrise, bei der Hunderttausende Menschen aus Syrien, aber auch anderen Staaten Asiens und Afrikas nach Europa kamen. Die EU sagte Ankara 2016 daraufhin sechs Milliarden Euro für die Versorgung syrischer Flüchtlinge in der Türkei zu. Dies war Teil eines Flüchtlingspaktes, der die türkische Seite verpflichtete, alle neu auf den griechischen Inseln ankommenden Migranten zurückzunehmen und stärker gegen Schlepperbanden vorzugehen.
UNO-Generalsekretär Antonio Guterres hat sich angesichts der eskalierenden Situation in der umkämpften syrischen Grenzregion Idlib besorgt geäußert und erneut eine umgehende Waffenruhe gefordert.