Über Casalpusterlengo scheint am Mittwoch eine grelle Februar-Sonne. Es ist Montagmorgen, normalerweise sind die Landstraßen in der südlichen Lombardei zu dieser Zeit stark befahren. Die Region ist Italiens Wirtschaftsmotor, 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden hier erwirtschaftet. Seit Sonntag hingegen herrscht Stille. An der Ortseinfahrt stehen zwei Polizisten und halten jedes Fahrzeug mit der Kelle an. Ein Lastwagenfahrer reicht Dokumente aus dem Fenster, ein Polizist kontrolliert. Dann darf der Wagen weiter fahren. Auf der Verkehrsinsel in der Mitte haben sich Kamerateams aufgestellt, sie senden die Bilder in alle Welt. Die Reporterin eines spanischen Senders hat sich für ihren Bericht einen Mundschutz und blaue Plastikhandschuhe übergestreift, auch wenn die Verkehrsinsel am Ortseingang ein eher sicherer Ort zu sein scheint. Italien schwankt zwischen Alarm und Alarmismus, das Corona-Virus hat die Öffentlichkeit im Griff.
Von der Außenwelt isoliert
Casalpusterlengo zählt zu den zehn Gemeinden in der Lombardei, die die italienische Regierung wegen der Sars-CoV-2-Infektion seit Sonntag per Notfalldekret von der Außenwelt isoliert hat. 50.000 Menschen sind betroffen, es regt sich keinerlei Protest gegen die drastischen Maßnahmen, sie werden als notwendig und sinnvoll hingenommen. Eines der bislang sechs italienischen Todesopfer starb im Nachbarort, die 77-jährige Seniorin wurde leblos in ihrer Wohnung aufgefunden. Bei allen Opfern handelte es sich um alte Menschen mit Vorkrankheiten, am Montag wurde der Tod eines 88-Jährigen sowie einer Krebspatientin in der Lombardei gemeldet. Die Behörden vermuten einen der beiden Infektionsherde im benachbarten Codogno. Italien, das beliebte Ferienziel südlich der Alpen, ist inzwischen nach China und Südkorea weltweit das Land mit den meisten festgestellten Infektionen. 229 waren es bei Redaktionsschluss am Montag, davon alleine 172 in der Lombardei und 32 im Veneto, 18 in der Emilia-Romagna. Am Donnerstag waren gerade einmal fünf Fälle gezählt worden. Die steigenden Zahlen haben einen inoffiziellen Ausnahmezustand ausgelöst.
Nun stellen sich vor allem zwei Fragen: Ist die Verbreitung des Virus trotz der intensiven Quarantänemaßnahmen überhaupt noch aufzuhalten? Auch die Gemeinde Vo Euganeo bei Padua, wo ein zweiter Ansteckungsherd festgestellt wurde, ist seit Sonntag komplett abgeriegelt. Doch Ansteckungen mit dem Corona-Virus wurden auch aus anderen Landesteilen gemeldet, aus dem Trentino etwa oder dem Piemont. Die zweite Frage lautet: Müssen sich auch andere Gegenden Europas auf Zustände wie in Casalpulsterlengo einstellen, kann der Corona-Virus so eingedämmt werden? Die Freizügigkeit im Schengen-Raum ist eine der größten Errungenschaften der EU. Einschränkungen und Ausgangssperren wie im chinesischen Wuhan, dem Herd der Infektion, sind hierzulande kaum denkbar. Und doch erinnert Norditalien mancherorts an chinesische Verhältnisse. Ist es eine Illusion, das Virus noch eindämmen zu wollen? Die EU, die mit der Flüchtlingskrise 2015 zuletzt an ihre Grenzen stieß, wird nun auf eine neue Belastungsprobe gestellt.
"Ein Gruß, kein Handschlag"
Rosella Franchi lebt in einem vierstöckigen Wohnhaus am Ortsrand von Casalpusterlengo. Normalerweise ist es hier schon eher ruhig, aber seit Sonntag ist es noch einmal stiller geworden, erzählt die 69-Jährige am Telefon. „Wir sind isoliert“, sagt Franchi, niemand werde aus der abgesperrten Zone herausgelassen. Im Ort sei die Fortbewegung schon möglich, aber ohne Auto, „das brauchen wir zur Zeit nicht“. Weit kommt hier niemand, viele Leute gehen oder fahren auch nicht mehr zur Arbeit, selbst die Regionalbahn, die täglich Tausende nach Mailand oder in die Umgebung brachte, wurde bis auf Weiteres eingestellt. Die zwei Bäckereien in Casalpusterlengo sind geöffnet, auch die beiden Supermärkte. Vor dem Famila-Großmarkt, der sieben Fußminuten von Franchis Wohnung entfernt liegt, bilden sich seit Sonntag Warteschlangen. Die Carabinieri lassen nur wenige Kunden hinein. Sie befürchten einen unkontrollierten Ansturm. Zwei Stunden stand Franchi deshalb am Montag in der Schlange. Drinnen dann leere Regale. „Obst, Gemüse und Fleisch gab es nicht mehr“, sagt sie. Der Nachschub kommt von den Lkw's, die am Ortseingang kontrolliert werden. Die Mundschutzmasken, von denen Experten sagen, die seien vor allem für diejenigen sinnvoll, die bereits mit dem Virus infiziert sind, sollten im Lauf des Tages geliefert werden. Wenn Rosella Franchi Bekannte auf der Straße trifft, wird Abstand gehalten. Ein Gruß, zwei Sätze, kein Handschlag und schon gar kein Küsschen. „China und der Infektionsherd schienen so weit weg und jetzt sind wir mittendrin“, stellt sie entmutigt fest.
Die italienische Regierung hat Maßnahmen wie in Casalpusterlengo ergriffen, um den Infektionsherd einzudämmen und zu verhindern, dass das Virus sich weiter ausbreitet. Die meisten halten das für eine sinnvolle Maßnahme, auch wenn der Epidemologe Pier Luigi Lopalco von der Universität Pisa Bedenken hat. „Möglicherweise wandert das Virus hier bereits seit Mitte Januar herum“, sagte er in einem am Montag veröffentlichten Interview mit La Repubblica. Der plötzliche Anstieg der Infektionszahlen sei eher auf die vielen Tests zurückzuführen, die nun durchgeführt werden. Man weiß: Mehr als 80 Prozent der mit dem Corona-Virus infizierten weisen keine oder nur ganz leichte Symptome wie Schnupfen oder Husten auf. Nicht auszuschließen, dass sich schon viel mehr Menschen angesteckt haben, ohne es zu bemerken, auch in den Nachbarländern. „Wenn sie in Deutschland Tests machen würden, kämen dort wahrscheinlich auch Fälle zum Vorschein“, so zitiert La Repubblica Lopalco. Angelo Borelli, Chef des italienischen Zivilschutzes, sieht die Lage ähnlich: Er werde sich nie über das Vorgehen in anderen Ländern auslassen, aber: „In Italien haben wir schnell reagiert und Vorsichtsmaßnahmen ergriffen“, sagt er am Montag.
Das Rätsel besteht darin, dass Italien die Person nicht findet, der den Virus aus China eingeschleppt haben könnte. Der sogenannte Patient Null ist nicht auffindbar. Anhand seiner Kontakte wäre die Infektionskette möglicherweise nachvollziehbar und die Ansteckungen einzudämmen. Vielleicht wusste der „Patient Null“ gar nichts von seiner Ansteckung und hat das Virus längst weiter verbreitet? Italiens Nachbarländer sind alarmiert, man ist sich vielerorts sicher, dass das Problem derzeit noch südlich der Alpen liegt. Am Sonntagabend wurde am Brenner der Eurocity Venedig-München gestoppt, weil zwei Frauen mit Husten und Fieber im Zug reisten, die der Corona-Infektion verdächtig waren. Übertriebene Panikmache oder berechtigte Sorge? In Venedig sind zwei Senioren wegen des Virus im Krankenhaus, der Karneval wurde abgesagt. Erst um Mitternacht durfte der Zug weiter fahren, Fehlalarm. Im französischen Lyon wurde ein Bus mit Norditalienern angehalten, wegen Corona-Verdachts. Das EU-Mitglied Rumänien hat 14 Tage Quarantäne für Reisende verfügt, die aus der Lombardei oder Venetien einreisen. Auf Mauritius wurde 40 Norditalienern die Einreise verweigert, ohne dass die Flugzeug-Passagiere irgendwelche grippeähnliche Symptome aufwiesen. Denn so simpel zeigt sich zunächst Sars-CoV-2 bei manchen Infizierten: per Husten, Schnupfen, Atemwegserkrankungen.
Flavia Arditi hat dennoch Angst. Die 33-Jährige arbeitet in der Modebranche und lebt in Mailand. In der 1,5-Millionen-Stadt mit großem Einzugsgebiet sind die Schulen und der Dom geschlossen.
Auch Museen, Kinos, Fitnessstudios und die Oper bleiben zu. Einige Modenschauen der Fashion Week wurden ohne Publikum ausgetragen, Fußballspiele fielen aus. Wer heiratet oder jemanden zu Grabe trägt, darf das nur im kleinen Kreis machen. Gottesdienste sind vorläufig suspendiert, alles, um den Kontakt zwischen den Menschen und damit die Ansteckungsgefahr so niedrig wie möglich zu halten. Das sonst so lebendige Mailand liegt etwa 60 Kilometer nördlich der abgesperrten Zone bei Cremona und wird Tag für Tag mehr zur Geisterstadt. Aber all' das interessiert Arditi nur am Rande. Sie macht sich vor allem Sorgen, weil sie einen Krebspatienten in der Familie hat, dessen Immunsystem geschwächt ist. „Seit Freitag sind die meisten Büros geschlossen, fast niemand mehr geht zur Arbeit“, erzählt Arditi am Telefon. „Wer kann, verlässt die Stadt“, fügt sie hinzu. Familie Arditi kann nicht, wegen des kranken Familienmitglieds. Auch sie haben Vorräte angelegt, vor allem Nudeln, Saucen und Tiefgefrorenes. Man weiß ja nie. Die unausgesprochene Sorge ist, dass mit Mailand dasselbe passiert wie mit Casalpusterlengo oder Codogno: totale Isolation. Arditi rechnet damit, entweder werde Mailand isoliert oder die ganze Lombardei, sagt sie. Empörung oder auch nur eine Spur von Widerstand gegen dieses Szenario der totalen Abschottung ist bei ihr nicht zu spüren. Es ist so, als füge sich Norditalien in ein unausweichliches Schicksal.