Herr Politi, was ist Papst Franziskus: Erneuerer der Kirche oder ihr Untergang?
MARCOPOLITI: Franziskus hat erkannt, dass die katholische Kirche im Wandel ist. In seiner traditionellen vorweihnachtlichen Ansprache vor der Römischen Kurie hat er heuer den verstorbenen Mailänder Kardinal Carlo Maria Martini zitiert, der vor seinem Tod gemeint hatte, die Kirche sei 200 Jahre lang stehen geblieben. „Habt Mut!“, hat der Papst gesagt. Um in einer säkularisierten Welt zu bestehen, müsse die Kirche sich erneuern. In diesem Sinn hat Franziskus seit seiner Wahl 2013 unter großen Schwierigkeiten mit einem Zickzackkurs Reformen gesetzt.
Welche Reformen sind das?
Franziskus hat die Vatikanbank gesäubert. Er hat mit der Sexbesessenheit der katholischen Kirche aufgeräumt. Die Diskussionen über voreheliche Beziehungen und Pille sind Vergangenheit. Homosexualität wird nicht mehr verteufelt. Franziskus hat im Vatikan einen Transsexuellen mit seiner Verlobten empfangen. Obwohl sich bei den Familiensynoden der Jahre keine Mehrheit dafür fand, hat er durchgesetzt, dass wiederverheiratete Geschiedene die Kommunion empfangen können. Schließlich hat er im Vorjahr noch zwei wichtige Dokumente zum sexuellen Missbrauch in der Kirche veröffentlicht: Er hat für die kirchlichen Prozesse das päpstliche Geheimnis aufgehoben. Die Opfer haben nun das Recht auf Information. Die vatikanischen und diözesanen Archive wurden für die Zusammenarbeit mit der weltlichen Justiz geöffnet. Und es wurde die Grundlage dafür geschaffen, Bischöfe, die sexuellen Missbrauch vertuscht haben, ihres Amtes zu entheben. Das sind alles große Reformen.
Trotzdem ist das vielen Reformkatholiken zu wenig. Sie werfen dem Papst Tatenlosigkeit beim Zölibat und Frauendiakonat vor.
In der katholischen Kirche tobt seit Jahren zwischen erzkonservativen Kräften und Reformkreisen ein heimlicher Bürgerkrieg, zu dessen Dreh- und Angelpunkt im siebten Jahr des Pontifikats von Franziskus die Amazoniensynode wurde. Der Papst hatte in deren Vorfeld die Ortskirchen ermuntert, offen die Frage zu debattieren, ob verheiratete, in Glaube und Lebensführung bewährte Männer die Eucharistie feiern dürfen. In den vergangenen 40 Jahren war das völlig undenkbar. Dass der Papst am Ende entgegen den Hoffnungen vieler dann doch den Mehrheitsbeschluss der amazonischen Bischöfe für diese viri probati ignoriert hat, deutet darauf hin, dass die Opposition der Traditionalisten zu stark war. Aus Furcht, er könnte ein Schisma heraufbeschwören, hat Franziskus es nicht gewagt, den Zölibat zu lockern.
Wer sind die mächtigsten Gegner des Papstes im Vatikan, die „Wölfe“, wie Sie sie nennen?
Die aggressive Speerspitze bilden der amerikanische Kardinal Raymond Burke und die deutschen Kurienkardinäle Walter Brandmüller und Gerhard Ludwig Müller, der von Franziskus abgesetzte Präfekt der Glaubenskongregation. Inzwischen melden aber auch andere gewichtige Stimmen Widerspruch an. So hat Kardinal Camillo Ruini, der sonst eher zurückhaltende ehemalige Vorsitzende der Italienischen Bischofskonferenz, vor der Veröffentlichung des nachsynodalen päpstlichen Schreibens zur Amazonassynode in einem Interview erklärt, er bete dafür, dass Franziskus nicht die Priesterweihe verheirateter
Männer billige. Ich bin mir sicher, dass Franziskus keine Zweidrittelmehrheit unter den Bischöfen fände, würde er morgen eine Weltsynode zur Lockerung des Zölibats einberufen.
Welche Rolle spielt bei alledem der zweite, der zurückgetretene Papst Benedikt im Vatikan?
Joseph Ratzinger ist viel edler als die Ränkeschmiede, die ihn als Werkzeug gegen Franziskus benutzen wollen. Sein Rücktritt war eine große und mutige Tat, die das Papsttum entmystifiziert hat. Benedikt hat sich jahrelang sehr korrekt verhalten. Immer wieder hat er Kardinäle und Bischöfe der Opposition zurückgewiesen und gesagt, dass es nur einen Papst gibt. Doch mit seinem jüngsten Artikel für das Zölibatsbuch des erzkonservativen Kurienkardinals Robert Sarah, das ein Frontalangriff auf eine mögliche Liberalisierung war und in dem er die Ehelosigkeit der Priester preist, hat sich der emeritierte Papst in die Regierungsarbeit von Franziskus eingemischt.
Macht Franziskus auch selber schwere Fehler?
Natürlich. Eine große Schwäche seines Pontifikats ist, dass er nicht sofort nach seiner Wahl in der Kurie ein Team gleichgesinnter reformfreudiger Kardinäle um sich geschart und die Schlüsselposten im Vatikan neu besetzt hat. Und dann ist Franziskus – wie es der mit ihm befreundete Kurienkardinal Walter Kasper einmal gesagt hat – doch mehr eine charismatische Persönlichkeit. Die Institution Kirche und ihre Organisation interessieren ihn nicht wirklich. Darin ähnelt er durchaus seinem Vorgänger. Eine negative Folge davon ist, dass er den institutionellen Gegenwind gegen seine Reformen arg unterschätzt
hat und nun in seinem Kampf vielfach alleine dasteht.
Was heißt alleine? Franziskus hat doch zahlreiche Unterstützer.
Es mag schon sein, dass viele Bischöfe dem Papst applaudieren. Aber wenn es darum geht, ihn auch zu verteidigen und sich selber für Reformen starkzumachen, ducken sich die meisten ängstlich und sehen zu, wie versucht wird, Franziskus auf jede nur erdenkliche Weise zu delegitimieren. Kardinäle ziehen offen seine Lehrautorität in Zweifel. Theologen bezichtigen ihn der Häresie und des Götzendienstes. Mitten in Rom hetzen anonyme Plakate gegen den Papst. Der ehemalige Nuntius in Washington fordert Franziskus in einem Brief zum Rücktritt auf. Und in den USA formieren sich bereits innerkirchliche Gruppierungen, die mit der Erstellung von schmutzigen Dossiers über reformerisch gesinnte mögliche Papstkandidaten Einfluss auf das nächste Konklave nehmen wollen. Aber Franziskus ist nicht nur von innerkirchlichen Gegnern umzingelt.
Wer will ihm noch schaden?
Es gibt mächtige ökonomische und politische Kräfte, die es dem Papst übel nehmen, dass er zum Kampf gegen die Ungleichheit in der Welt, den Raubtierkapitalismus und die Umweltzerstörung aufruft. Sie wollen nichts davon hören, wenn Franziskus erklärt, dass die durch den Klimawandel ausgelöste Verödung ganzer Landstriche zur Massenmigration und zur Verwüstung der sozialen Landschaften nicht nur in Afrika und Asien führt. Kardinal Óscar Maradiaga aus Honduras hat gesagt, dass die Erdölkonzerne bereits gegen die Enzyklika „Laudato si’“ waren, als diese noch gar nicht veröffentlicht war.
Ist Franziskus gescheitert?
Wir erleben derzeit sicherlich eine Phase der Stagnation. Aber in Buenos Aires sagte man mir einst, Jorge Bergoglio sei ein sehr politischer Kopf. Er wisse, dass man sich bei Gegenwind in die Riemen werfen und rudern müsse. Franziskus ist zäh. Noch vor ein paar Jahren hat er gesagt, dass er nur vier, fünf Jahre Papst sein wolle und dann vielleicht zurücktreten werde. Mittlerweile hat er eingesehen, dass er für sein Reformwerk so lange an der Spitze der Kirche bleiben muss, wie seine physischen Kräfte reichen. Nur wer weiß, wie lange Franziskus’ Pontifikat noch dauern wird?
Was ist das wichtigste Erbe, das er der Kirche hinterlassen wird?
Dass Christsein heute mehr denn je bedeutet, sich für seine Mitmenschen zu engagieren. Dass das Christentum eine frohe Botschaft ist, nicht eine der Angst. Und dass Gott nicht Katholik, sondern für alle da ist. Die wohl bedeutendste Hinterlassenschaft aber ist, dass Franziskus die monarchische katholische Kirche in eine synodale Gemeinschaft umwandeln will. Franziskus weiß, dass der Weg dahin noch weit und steinig ist und er diesen Prozess nur einleiten kann. Aber er sieht sich selber als Sämann und hofft und vertraut darauf, dass andere die Ernte einfahren werden.