Von heute an will Boris Johnson das Wort „Brexit“ nicht mehr hören. Er hat seine Mitarbeiter und Ministerialbeamten angehalten, es aus ihrem Vokabular zu streichen.
Nun, da Großbritannien aus der EU ausgetreten ist, soll niemand mehr im Zweifel darüber sein, dass der Tory-Premier sein Wahlversprechen gehalten und es seinem Land ermöglicht hat, den Brexit „hinter sich“ zu bringen. Bereits im Laufe der Woche hatte Johnson sich bei den im Brexit-Ministerium beschäftigten Beamten für ihre „gute Arbeit“ bedankt. Gestern Nacht wurde das Ressort aufgelöst.
In den letzten Stunden vor dem Austritt war das B-Wort natürlich noch einmal in aller Munde. „Brexit Day“ war der Tag, den Britanniens Brexiteers herbeigesehnt hatten. Um das Ereignis zu würdigen, hatte Johnson sein Kabinett zur Wochensitzung nicht zur Downing Street, sondern ins nordenglische Sunderland beordert, eine Anti-EU-Hochburg und der Wahlkreis, der in der Referendumsnacht von 2016 das erste Ergebnis geliefert hatte: 61 Prozent für Brexit, ein Fingerzeig.
Dass der große Nissan-Betrieb der Stadt, nicht zuletzt wegen Brexit-Ängsten, gehörig ins Schleudern geraten ist und die Leute in Sunderland sich wegen der Zukunft sorgen, konnte für die in Feierlaune angerückte Regierung kein Thema sein. Ihre Stimmung entsprach eher den Schlagzeilen jener Londoner Boulevardblätter, die an diesem Tag ihren Triumph unter dem Motto „Es ist vollbracht“ auskosteten. „Nach 30 Jahren Widerstandskampf“ gegen die „Gefahr eines europäischen Superstaats“ sei es so weit, jubelte Rupert Murdochs „Sun“: „Our Time Has Come“. Die „Daily Mail“ frohlockte, die „stolze Nation“ sei „nach 47 Jahren endlich wieder frei und unabhängig“. Eine „neue Morgendämmerung“ sah sie über den Kreidefelsen von Dover aufziehen.
Neue Morgenröte
Die Morgenröte einer neuen Ära“ beschwor auch der Premier in einer feierlichen Fernseh-Ansprache. Da war die Sonne längst untergegangen. Der Abschied von der EU ist für ihn „kein Ende, sondern ein Neuanfang – ein Augenblick echter nationaler Erneuerung“. Nun hebe sich „der Vorhang für einen neuen Akt“.
Johnson versuchte, an diesem Tag nicht zu provokativ zu wirken. Er ließ ein paar öffentliche Gebäude anstrahlen und an den Fahnenmasten des Parliament Square Union Jacks aufziehen. In der Downing Street wurden die Minuten und Sekunden zum Austrittszeitpunkt – 23 Uhr britischer Zeit – heruntergezählt.
Farage durfte nur leise feiern
Offizielle Festakte gab es keine, und auch kein Feuerwerk, kein Glockengeläut. Nicht einmal Big Ben schlug der EU-Mitgliedschaft die letzte Stunde, wie es die Brexit-Hardliner verlangt hatten. Nigel Farage und seine Verbündeten, denen eine zweistündige Party vis-à-vis vom Parlament genehmigt worden war, mussten ohne Alkohol und akustische Verstärker auskommen. Offenbar „schäme“ sich Boris für den Brexit, ätzte Farage. Die meisten Konservativen, wie Brexit-Veteran Steve Baker, hielten es für weiser, ihr Glas Champagner „diskret“ hinter verschlossenen Türen zu trinken.
Gruppen proeuropäischer Briten zogen untröstlich an der Seite bedrückter EU-Bürger durch die Straßen, um sich zu eigenen „Trauerfesten“ zu sammeln. Londons Labour-Bürgermeister Sadiq Khan öffnete in der Stadt ansässigen Europäern die Tore der City Hall, des Rathauses an der Themse, für Kaffee, Gratis-Rechtsberatung und „Hilfe emotionaler Art“. Unter dem Riesenrad, an der South Bank, war eine „stille Kundgebung“ geplant, bei der Lichter „zum Protest gegen den Austritt“ geschwenkt werden sollten.
Brennende Kerzen in den Fenstern
Manche Brexit-Gegner zündeten am Abend Kerzen in ihren Fenstern an. Ähnliche Gesten gab es in vielen britischen Städten und Orten. Beiderseits der nordirischen Grenze stellten Demonstranten Poster mit der Aufschrift „Der Kampf geht weiter“ auf.
Auch Schottland, das 2016 zu fast zwei Dritteln für den Verbleib in der EU gestimmt hatte, meldete „Widerstand“ an. Bei ihren Landsleuten mische sich in die Trauer Grimm, meinte die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon. Eine neue YouGov-Umfrage zeigt, dass eine knappe Mehrheit der Schotten für die Unabhängigkeit stimmen würde – in der Hoffnung, als von England abgekoppelte Nation wieder in die EU aufgenommen zu werden.
Der Politologe Sir John Curtice, die Eminenz unter den britischen Umfrage-Experten, sieht in den neuesten Zahlen „einen wichtigen Beweis dafür, wie die wilde Jagd Richtung Brexit die Unterstützung für die Union (aus Schottland und England) untergraben hat“.
Just zum „B-Day“ erfuhren die Briten auch, dass ihre Regierung sie nun erstmals offen auf künftige Grenzkontrollen und „Extra-Prozeduren“ vorbereitete. Der „Guardian“ meldete, seit dem Referendum hätten 350.000 britische Bürger Pässe unterschiedlichster EU-Länder beantragt. Doch als ironischster Aspekt der Brexit-Geschichte muss gelten, dass zum Zeitpunkt des gestrigen Abschieds eine Mehrheit der Briten diesen Abschied offenbar gar nicht mehr wollte. Umfragen über mehrere Monate hin haben ergeben, dass neuerdings 52 Prozent britischer Wähler gegen einen Brexit stimmen würden.