Am Freitag ist es so weit. Großbritannien verlässt um Mitternacht die EU – ein historisch einmaliger Vorgang. Trotzdem wirkt Johannes Hahn bei allem Bedauern über den Brexit zuversichtlich: „Wir Europäer sind aus jeder Krise gestärkt hervorgegangen“, sagt der EU-Haushaltskommissar im Gespräch mit Kleine-Zeitung-Chefredakteur Hubert Patterer beim Wiener Salon.
Dass der Brexit den Beginn eines Zerfalls der Union markiert, hält Hahn für unwahrscheinlich: Die chaotischen Brexit-Verhandlungen der Briten hätten der EU unglaublichen Zuspruch beschert. Doch wie eng soll die EU das Vereinigte Königreich künftig anbinden, ohne eine Kettenreaktion auszulösen? Hahn: „Das liegt an den Briten.“ Wesentlich sei, dass London kein Rosinenpicken betreiben könne. Dennoch glaubt der Finanzkommissar, dass man sich vernünftig einigen werde. Ob das binnen eines Jahres gelinge, stehe auf einem anderen Blatt.
Der ranghöchste Österreicher in Brüssel macht seinem Spitznamen „Gio“ (von italienisch Giovanni) an diesem Abend alle Ehre. Zur Soirée in den Räumlichkeiten der Wiener Repräsentanz der Kleinen Zeitung erscheint er in elegant lässigem Outfit all’italiana. Hahn trägt ein weißes Hemd und ein dunkles Sakko, aus dessen Tasche die eingerollte Krawatte wie ein Stecktuch hervorlugt. „In der Früh zählt jede Minute. Dann stecke ich die Krawatte ein und wenn es nötig ist, kann ich sie umbinden. Sie ist überall als meine Signatur bekannt.“
Ob er mit dem neuen Nachtzug gekommen sei. „Brüssel–Wien in vierzehn Stunden, haben Sie es schon versucht?“ Nein, gibt Hahn zurück: Aber „wenn ich mich einmal ausschlafen will, nehme ich den Zug“. Hinter dem Scherz, so der Kommissar, verberge sich freilich „ein ernsthaftes Problem“: Solange es Europa nicht gelinge, die durch „verquere Kontrollen“ technischer Natur an den Grenzen verursachte lange Zugreisedauer zu verkürzen, „sind alle Diskussionen um Bahnfahrten statt Kurzflügen illusorisch“.
Flugscham kennt Hahn, der berufsbedingte Vielflieger, keine: „Mein Job ist es, die Dinge zu erledigen. Dafür muss ich mit dem bestmöglichen Transportmittel von A nach B kommen. Jüngst war ich in Paris. Dorthin fährt man von Brüssel mit dem Zug in 80 Minuten. Kein Mensch käme auf die Idee, das Auto zu nehmen oder zu fliegen.“
Damit sind Moderator und Gast auch schon mitten in der Klimadebatte gelandet, die die Schlagzeilen beherrscht. Ob der „Green Deal“ der EU mit 1000 Milliarden Euro ein Fest für dirigistische Bürokraten sei und Europa sich von einem 17-jährigen Teenager vor sich hertreiben lasse, versucht Patterer Hahn aus der Reserve zu locken. Greta Thunberg habe „eine Welle“ ausgelöst, gibt dieser zurück. „Sie hat geholfen, Bewusstsein zu schaffen.“ Nun gelte es, den Kampf gegen den Klimawandel mit modernsten Technologien zu führen. „Da ist Europa-Avantgarde.“ Die Welt stehe beim Klima an einem Kreuzungspunkt. „Wir Europäer haben hier unser Thema fürs 21. Jahrhundert gefunden.“ Und die Chance, Europas Platz in einer immer kompetitiveren Welt zu sichern.
Auch vor dem Hintergrund dieser neuen grünen Erzählung für Europa sieht der Kommissar Türkis-Grün in Österreich mit Wohlwollen: „Ich hatte schon mehr Erklärungsbedarf“, meint er launig auf die Frage, wie der Wiener Laborversuch in Brüssel wahrgenommen werde. „Es ist eine interessante Mischung aus Erstaunen und Verblüffung ... aber ich bin ich sehr stolz auf mein Land, weil wir ein interessantes Beispiel abgeben, das jetzt viele darüber nachdenken lässt, ob es auch für sie etwas wäre.“
Und die FPÖ? Ist ihr erneutes Scheitern als Koalitionspartner nicht trister Beleg für eine genetisch angelegte Regierungsuntauglichkeit? Hahn denkt nach. Da lässt sich seine Lebensgefährtin, die ehemalige blaue Vizekanzlerin Susanne Riess, mit einem unüberhörbaren „Ja“ aus dem Auditorium vernehmen.
Mit der ihm eigenen Unaufgeregtheit sieht der EU-Kommissar Österreichs viel gescholtene dissidente Haltung beim Mercosur-Vertrag, dem Migrationspakt und beim EU-Budget. Ob dieses Querstehen ein Fehler sei, fragt Patterer: „Auch andere Staaten haben eine idente Haltung eingenommen. Aber das ist Europa. Es heißt nicht umsonst ‚Vereint in Vielfalt‘“, erwidert Hahn.
Das bedeutet aber nicht, dass er die Risse ausblendet, die sich in Europa zwischen Ost und West etwa in der Migrationsfrage auftun. „Eines unserer größten Probleme ist, dass wir viel zu wenig Kenntnis über die Befindlichkeiten der Menschen in anderen Ländern haben und daher zu sehr klischeehaften Einschätzungen kommen.“
Hahn kennt die Mahnung seines alten Chefs, Jean-Claude Juncker, gegen den „dummen Nationalismus“ anzukämpfen. Abschottung sei keine Lösung. Als Segler wisse er, dass man bei einem aufziehenden Sturm nicht die Küste ansteuern dürfe, wo das Boot Gefahr laufe, zu zerschellen, sondern auf das offene Meer hinausfahren müsse.
Keine Kultur im Umgang mit ehemaligen Staatsspitzen
Apropos Juncker: Der Luxemburger hat in der Kommission in Brüssel nun ein eigenes Büro. Europa soll von seinem dichten Netzwerk profitieren und Hahn, dessen „Berater“ Juncker formal sogar ist, findet das gut. „Wir haben in Österreich keine Kultur im Umgang mit ehemaligen Spitzenfunktionsinhabern. Diese können dem Land in der Folge dienen und sollten daher eine Infrastruktur bereitgestellt bekommen. Ein Staatspräsident soll nicht so wie seinerzeit Harry Truman mit dem eigenen Auto nach Hause fahren.“
Der Abend ist vorgerückt. Was er unter der europäischen Art zu leben verstehe, die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Antrittsrede gepriesen habe, fragt Patterer zum Abschluss. Er stelle diese Frage ganz bewusst im „magischen Dreieck zwischen Albertina, Stephansdom und Staatsoper“, so der Chefredakteur. „Sie haben es soeben beschrieben“, sagt Hahn. Europa sei für ihn ein weltweit einzigartiges Maß an individueller Freiheit, das in ein einmaliges kulturelles Ambiente gebettet ist.