Sie sind im November als Berater bei der Eurasia-Group eingestiegen, einer der weltweit führenden US-Denkfabriken. Das in New Yorker Unternehmen mit Stützpunkten weltweit berät Investoren und Manager über politische Entwicklungen und Risiken. Was raten Sie denen derzeit?

SIGMAR GABRIEL: Erstmal bin ich der interne Berater der Group, nicht so sehr gegenüber deren Kunden. Aber das ist deshalb ein interessantes Unternehmen, weil es im deutschsprachigen Raum etwas Vergleichbares nicht gibt. Das liegt daran, dass wir aufgrund unserer historischen Entwicklung die letzten 70 Jahre aus der Geopolitik herausgehalten haben. Das haben wir Deutschen den Briten, Franzosen und vor allem der USA überlassen. Das führte dazu, dass sich unsere Unternehmen mit geopolitischen Fragen nicht besonders auseinandergesetzt haben. Das ändert sich gerade, weil sich die Weltlage ändert.

Was ändern sich?

SIGMAR GABRIEL: Am Jahresanfang gibt die Group immer einen Risk-Report heraus und ordnet diesen nach der Schwere der Risiken. Das größte Risiko liegt für uns dort, wo wir bisher glaubten die größte Verlässlichkeit zu haben, nämlich in unserem Verhältnis zu den USA. Für Unternehmen in Zentraleuropa ist es außerordentlich schwierig geworden, wohin sich die USA entwickeln und welche Konsequenzen das haben wird. Jahrzehnte haben sich die USA für die Frage des Gas-Exports aus Russland nicht interessiert. Seit einigen Jahren sind sie selbst Exporteur und auf einmal belegen sie Unternehmen in Europa mit Sanktionen, wenn sie sich am Bau einer russischen Pipeline beteiligen.

Sie haben am 5. Jänner in einem Zeitungsbeitrag mehr Risikobereitschaft von Europa gefordert. Was kann die EU wirklich tun?

SIGMAR GABRIEL: Wir könnten eine Menge machen. Wir sind sehr abhängig vom Dollar, weil wir uns nicht trauen, den Euro zu einer internationalen Reservewährung zu machen. Würden wir das machen, müssten wir ihn gemeinschaftlich verbürgen. Gerade wir Deutsche, gelegentlich auch die Österreicher, finden das „des Teufels“. Wenn wir ihn aber nicht gemeinschaftlich absichern, werden internationale Investoren ihn nicht in dem Maße akzeptieren wie den Dollar. Das heißt, wir bleiben in unserer wirtschaftlichen Souveränität eingeschränkt. Europa wird sich in vielen Feldern zwischen Risiken entscheiden müssen. Bislang sind wir gewohnt, dass wir die Wahl hatten zwischen keinem Risiko und einem Risiko – in der Regel haben wir uns für kein Risiko entschieden. Das ging so lange gut, so lange wir jemanden wie die USA hatten, die bereit waren, jedes Risiko zu nehmen.

Was heißt das konkret?

SIGMAR GABRIEL: Wollen wir das Risiko zu großer staatlicher Verschuldung in einigen Teilen Europas einnehmen, oder wollen wir das Risiko des Fehlens dauerhafter Souveränität. Wollen wir das Risiko, dass wir uns militärisch aus dem Nahen Osten heraushalten, dann haben wir das Risiko massiver Migrationsströme. Sind wir bereit, stärker in die Verteidigung zu investieren, dann heißt das, wir werden auch in größere Konfliktfelder hineingeraten. Wollen wir uns dem wirtschaftlichen Druck und den Angeboten Chinas weiter so öffnen wie bisher, dann haben wir das Risiko, dass sie unsere kritische Infrastruktur übernehmen oder einen großen Einfluss haben. Die Zeiten, in denen wir zwischen keinem Risiko und einem Risiko wählen konnten, sind vorbei. Das meinte ich damit, wir werden „risikobewusster“ werden müssen.

Zwischen den USA und China wurde ein erstes Teilabkommen im Handelsstreit besiegelt. Ist das ein Schritt zur Deeskalation?

SIGMAR GABRIEL: Ich bin froh, dass es das gibt. Ich überschätze es nicht, weil es etwas gibt, das über einen Handelskonflikt hinausgeht. Der Konflikt um Huawei und andere Technologieunternehmen ist kein Handelskonflikt sondern der Beginn eines Kalten Krieges über technologische und wirtschaftliche Marktführerschaft und die politische Frage, wer bestimmt die Weltordnung?

Wer bestimmt sie?

SIGMAR GABRIEL: Die USA sehen in China ihren großen wirtschaftlichen, technologischen, politischen und militärischen Konkurrenten. Dieses Handelsabkommen ist gewiss keine Möglichkeit diesen Konflikt zu lösen und ihn in geordnete Bahnen zu lenken. Insofern muss man immer über zwei Dinge reden. Wir reden einmal über Handelsauseinandersetzungen, wo wir Europäer mit den USA gemeinsame Kritik an China haben. Es ist nicht so, dass wir den Umgang mit Patentschutz, Subventionierung von Wirtschaft und öffentlichen Ausschreibungen fair finden. Es gibt daneben einen strategischen Großkonflikt über die Weltordnung: Wer ist die Führungsnation. Ich glaube, dass dieser zweite Konflikt einer ist, wo es noch nicht einmal den Ansatz einer Lösung gibt – eher das Gegenteil.

Warum?

SIGMAR GABRIEL: Es gibt in Amerika gerade eine Gesetzgebung im Kongress, interessanterweise Republikaner und Demokraten gemeinschaftlich, die sagen, selbst wenn Donald Trump ein Abkommen schließt, wollen wir ihm verbieten, Huawei oder anderen Technologieunternehmen den Zugang zu ermöglichen. Das darf davon nicht erfasst werden. Das hat für uns die Konsequenz, dass sich, wenn es so weitergeht, die digitale Welt spaltet, dass wir so etwas wie eine digitale Berliner Mauer bekommen.

Mit welchen Folgen für Europa?

SIGMAR GABRIEL: Wir sind sicherheitspolitisch mit den Amerikanern verbunden, aber die Chinesen sind gleichzeitig ein Marktplatz für uns. Wie schaffen wir das, wenn sich die digitalen Welten trennen? Wie reagieren wir darauf und welche Rückwirkung hat das auf uns? Wir sind gerade erst dabei, diese Konflikte richtig zu verstehen. Das ist ein ziemlich unbequemer Platz zwischen diesen beiden. Europa wird nur eine Chance haben, wenn es in diesem Konflikt gemeinschaftlich auftritt.

Was wäre ein Lösungsansatz?

SIGMAR GABRIEL: Ich glaube, dass eine Strategie, die versucht, ein 1,4 Milliarden Volk einzusperren, scheitern muss. Wir werden die Chinesen nicht unter Arrest stellen. Was man schaffen kann ist, sie in ihrem ökonomischen Verhalten zu disziplinieren. Dafür aber müssten USA, Europa, Japan, Südkorea, Australien zusammenarbeiten. Bisher versuchen alle, ihre Konflikte mit China bilateral zu klären.

Steckt unser wichtigster Handelspartner Deutschland in einer konjunkturellen Delle oder bahnt sich eine Krise an?

SIGMAR GABRIEL: Wir haben eine ungewöhnlich lange Periode des Aufschwungs hinter uns, die längste seit der Nachkriegsgeschichte. Was wir sehen, ist eine ganze Reihe von Verunsicherungen, eine allgemeine Abkühlung der Weltkonjunktur, der Konflikt zwischen den USA und China, wir haben den Brexit und zahlreiche weitere Einflüsse. Ich glaube nicht, dass wir vor einer tiefen, strukturellen Krise stehen, aber wir werden durch eine Zeit gehen, wo die Situation angestrengter sein wird als in den vergangenen zehn Jahren. Was Österreich und Deutschland gemeinsam betreffen wird: Wir waren und sind immer noch die Industrialisierer der Welt. Unsere Industrien haben in den letzten zehn bis 20 Jahren enorm von der Globalisierung profitiert.

Jetzt nicht mehr?

SIGMAR GABRIEL: So wie die vorigen 70 Jahre der Export unser Erfolgsfaktor war, ist der Export auch jetzt unsere Achillesferse. Alles, was in der Globalisierung, digitale Spaltung, Handelskonflikte, was den Export beeinträchtigt, merken wir sofort in der Ökonomie.

Was bedeutet das für die nähere Zukunft?

SIGMAR GABRIEL: Es wird sehr darauf ankommen, ob wir – zugespitzt formuliert – unser Geld nur in der Gegenwart und Vergangenheit ausgeben, oder ob wir in der Lage sind, diesen Herausforderungen entgegenzutreten. Sehen wir uns den Bereich der Künstlichen Intelligenz an, da gibt China 150 Milliarden Dollar im Jahr aus, Deutschland drei Milliarden. Es wird von uns abhängen, ob wir da mithalten wollen.

Kann der „Green New Deal“ der EU-Kommission im Kampf gegen den Klimawandel entscheidender Impulsgeber sein?

SIGMAR GABRIEL: Der Knackpunkt liegt in der Frage: Wann wird die Welt dem europäischen Beispiel folgen? Wenn wir zeigen können, dass wirtschaftliche Prosperität und Klimaschutz Hand in Hand gehen. Nur, wenn Europa zeigt, dass wir unsere Leistungsfähigkeit, unsere innere Stärke durch den Klimaschutz nicht schwächen, werden wir Nachahmer finden. In dem Moment, wo wir das nicht tun, werden Schwellen- und Entwicklungsländer sagen, lasst uns in Ruhe.

Ist die EU das globale Labor?

SIGMAR GABRIEL: Das ist klar, denn wenn die Reichen das nicht schaffen, wie sollen wir das dann machen. Als Umweltminister war ich bei vielen Klimaschutzkonferenzen. Die offizielle Tagesordnung lautet Klimaschutz. Aber die inoffizielle, unter dem Tisch, dreht sich immer um die Frage, wie der wirtschaftliche Erfolg trotzdem gelingt. Natürlich kann ich verstehen, dass ein junges Mädchen wie Greta Thunberg in der UNO sitzt und sagt, eure Wachstumsideologie kostet mich meine Zukunft. Wir müssen aber auch wissen, dass da vor Greta Thunberg Vertreter von Ländern sitzen, die zum Teil bitterarm sind und bei denen Wachstumskritik wie Hohn ankommt. Die sagen, ihr Reichen aus dem Norden, ihr wollt uns doch nur daran hindern, dass wir zu euren Wettbewerbern werden.

In Österreich haben in einer aktuellen Umfrage die Grünen die SPÖ überholt. In Deutschland ist es schon seit einiger Zeit so. Wofür steht die Sozialdemokratie überhaupt noch?

SIGMAR GABRIEL: Für mich stand und steht sie immer für die Idee, dass in einer Gesellschaft Bedingungen herrschen müssen, bei dem jeder aus seinem Leben etwas machen kann. Ein gelungenes Leben muss jeder alleine finden, das kann keine Partei und kein Staat organisieren, aber Bedingungen schaffen, dass jedes Leben gelingen kann und zwar egal, welches Einkommen die Eltern haben, welches Geschlecht man hat, welche Rasse, welche Religion, Hautfarbe. Das ist die Aufgabe der Sozialdemokratie.

Und gelingt das auch?

SIGMAR GABRIEL: Wir haben begonnen, den Versuch auf kulturelle Hegemonie durch Adressieren von gesellschaftlichen Minderheiten zu beheben. Ein wenig unter der Überschrift „Die Summe der Minderheiten ergibt am Ende eine Mehrheit“. Wir haben uns stärker den Geschlechtergleichstellungsfragen gewidmet und den Migrationsthemen. Aber wir haben dabei die Substanz vernachlässigt, dass wir eine Parteienfamilie sind, die sich um ökonomische und soziale Fragen kümmert. Herausgekommen ist eine ziemlich akademisierte Parteienfamilie, die nicht mehr verstanden hat, warum es sozialdemokratische Wählerinnen und Wählern gibt, die massenhafte Migration schwierig finden.

Warum?

SIGMAR GABRIEL: Weil sie in Lebensverhältnissen leben, in denen sie verletzbarer sind als das gut verdienende Bildungsbürgertum. Es ist einfach, für eine multikulturelle Gesellschaft zu sein, wenn der einzige Ausländer, den sie kennenlernen, der Taxi-Fahrer ist. Es ist schwieriger, wenn Ihre Kinder in eine Schule gehen mit 80 Prozent Migrantenanteil und dort ganz anderen Konflikten ausgesetzt sind. Ich rede nicht davon, was gut ist oder schlecht. Aber wenn die Sozialdemokratie nicht mehr versteht, dass Teile ihrer Wählerschaft keine bildungsbürgerlichem Eliten sind sondern ganz andere Lebensbedingungen haben, dann wird es schwierig für sie. Ich glaube, das ist uns passiert.

Soziale Nachhaltigkeit und Umweltnachhaltigkeit sind klassischeres sozialpolitische Thema. Was hat die Sozialdemokratie an der Stelle nicht verstanden?

SIGMAR GABRIEL: Eine Wahlanalyse hat gezeigt, Stammwählerinnen und -wähler hätten den Eindruck, die SPD würde sie verachten, weil sie mit ihren Sorgen und Nöten in einer akademisierten Welt nicht ernst genommen würden. Da sage ihnen die SPD immer nur, sie hätten die falsche Haltung. Ich höre in Wien, dass man in den Stammbezirken der SPÖ sagt, die Bobos im Zentrum verstehen unsere Sorgen nicht mehr. Ich glaube, dass sich da eines der Probleme entwickelt hat in den vergangenen 30 Jahren. Und es kommt hinzu, dass die Grünen ein klares Profil in einem Thema haben, von dem wir seit vielen Jahren merken, dass das ein Menschheitsthema ist und die Grünen dieses Thema glaubwürdig besetzen.

Aber Sie waren ja acht Jahre Boss der Truppe. Also, trifft Sie auch ein Teil des Vorwurfes, oder?

SIGMAR GABRIEL: Das ist klar. Ich könnte es mir natürlich einfach machen und sagen, wir haben bei der Bundeswahl mit mir wenigstens noch 26 Prozent bekommen und davon kann die SPD mit 13 heute nur träumen. Ich will aber eines – nicht nur als Entschuldigung meiner Person – sagen. Es gibt da eine relativ normale Entwicklung. Eine sich aufspaltende Individualisierung der Gesellschaft produziert auch ein anderes Parteiensystem. Es wäre ja komisch, wenn sich die gesamte Gesellschaft individualisiert, nur die Parteien sind noch genauso wie in den 70er Jahren. Die Sozialdemokratie in Deutschland wird ihr Kernproblem solange nicht lösen, bis sie geklärt hat, was sie sein will. Dabei ist es auch ziemlich egal, wer an der Spitze steht. Eine Sozialdemokratie, die im Zweifel linker als die Linksparteien oder grüner als die Grünen sein will, wird immer feststellen, dass es dort bereits Originale gibt. Die wählen die Leute dann eher als die Kopie.

Was muss also getan werden?

SIGMAR GABRIEL: Sie muss ein eigenes Profil entwickeln, das im wirtschaftlichen Erfolg, der sozialen Sicherheit und ökologischer Vernunft liegt. Diese drei Dinge zusammenzubekommen und eher ein sozial liberales Profil sein muss, da ist eigentlich der Platz für eine 25+X Partei in Deutschland und nicht bei einer Kopie der Linkspartei und nicht bei einer Kopie der Grünen.

Und in Österreich?

SIGMAR GABRIEL: Österreich ist mit Sebastian Kurz eine interessante Ausnahme. Es ist spannend zu verfolgen, warum es ihm gelungen ist, eine Volkspartei wieder oberhalb von 35 zu etablieren, was in Deutschland nicht einmal mehr der CDU gelingt.

Warum ist es Kurz aus Ihrer Sicht gelungen?

SIGMAR GABRIEL: Abgesehen von allen persönlichen Eigenschaften, die ihn sicher zu einer Ausnahmegestalt in der Politik machen, ist er einfach ein kluger Stratege: er konzentriert sich auf wenige klare Themen und wünscht sich gerade den Konflikt darüber, weil ihn das profiliert. Das waren vor allem innere Sicherheit in der Folge der Flüchtlingszuwanderung und zugleich die Entlastung der Menschen mit mittlerem Einkommen. Die sollen mehr von ihrer harten Arbeit behalten. Man könnte auch sagen: eigentlich zwei klassische sozialdemokratische Themen, von einem konservativen Kanzler besetzt, weil er sich nicht durch liberale Elitenthemen verführen lässt, sondern den ganz einfachen Fragen nachgeht, die Menschen ihm stellen. Und er ist natürlich auch ein kühl kalkulierender Machtmensch: erst privatisiert er praktisch die alte ÖVP. Dann holt er die wirklich unanständigen Leute der FPÖ in die Regierung, weil er dadurch die SPÖ loswerden und Kanzler werden konnte. Dann führt genau das in eine Staatskrise – und am Ende profiliert er sich als „Held“, weil er die Staatskrise dadurch beendet, dass er die schrägen Gestalten wieder aus der Regierung schmeisst, die er selbst hinein geholt hat. Machiavelli hätte seine Freude an ihm. Alles zusammen macht ihn erfolgreich. In Bayern sagt man dazu anerkennend: „A Hund is er scho‘.“