Drei Tage hatte Iran geleugnet. In der Nacht zu Samstag kam dann plötzlich die Wende. Präsident Hassan Rohani und Außenminister Mohammed Dschawad Sarif gaben zu, die eigenen Streitkräfte hätten die ukrainische Passagiermaschine kurz nach dem Start in Teheran irrtümlich abgeschossen. „Das ist eine große Tragödie und ein unverzeihlicher Fehler“, twitterte Rohani und forderte, die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen und die Familien der 176 Opfer entschädigt werden.
Sarif entschuldigte sich bei den Angehörigen, wies aber auch dem „Abenteurertum der USA“ in der Region eine Mitschuld an dem Desaster zu. Der Oberste Revolutionsführer Ali Chamenei wiederum forderte die Streitkräfte auf, sich mit dem eigenen Versagen zu konfrontieren. Dagegen war der Chef der iranischen Luftfahrtbehörde, Ali Abedzadeh, noch am Freitag vor die Presse getreten und hatte kategorisch ausgeschlossen, dass das Flugzeug von einer Rakete getroffen worden sei. Andere Regimevertreter sprachen sogar von einer westlichen Verschwörung und von „psychologischer Kriegsführung des Pentagon“.
Erbitterter Machtkampf
Dieses Hin und Her offenbart einen erbitterten Machtkampf hinter den Kulissen der Islamischen Republik zwischen den Revolutionären Garden und der moderaten Regierung, bei der Präsident Rohani am Ende die Oberhand behielt und die Absicht der Garden durchkreuzte, den Abschuss zu vertuschen. Am Samstag erklärte der Luftwaffenchef der Revolutionswächter, Amirali Hadschisadeh, kleinlaut im Staatsfernsehen, er übernehme die volle Verantwortung für den Abschuss. „Als ich davon erfahren habe, wünschte ich mir, lieber selbst tot zu sein, statt Zeuge dieses Unglücks“, sagte er.
Nach Angaben des iranischen Oberkommandos habe sich der Passagierjet dem strategisch wichtigen Raketentestgelände der Garden genähert und sei deshalb für ein angreifendes feindliches Kampfflugzeug gehalten worden. Die gesamten Streitkräfte hätten sich in dieser Nacht wegen der iranischen Vergeltungsschläge gegen US-Truppen im Irak in „höchster Alarmbereitschaft“ befunden. „Aus dieser Situation heraus wurde das Flugzeug getroffen – aus Versehen und ohne Absicht“, hieß es in der Stellungnahme, die gleichzeitig die Revolutionären Garden aufforderte, alle Informationen jetzt möglichst rasch auf den Tisch zu legen.
Westliche Militärs waren wenige Stunden nach der Katastrophe durch Satellitendaten und abgehörten Funkverkehr zu dem Schluss gekommen, dass „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ zwei Raketen die Maschine trafen. Der Iran besitzt seit 2006 einige russische Tor-Luftabwehrbatterien, die mit SA-15-Raketen bestückt sind.
Gescheiterte Vertuschung
„Dieser Morgen war nicht schön, aber er brachte die Wahrheit“, reagierte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Samstag auf Facebook und forderte, die Verantwortlichen müssten vor Gericht gestellt und bestraft werden. Er erwarte ein volles Bekenntnis der Schuld und eine Untersuchung, die jetzt „rasch und ohne Behinderung erfolgt“.
Tags zuvor hatten die ukrainischen Ermittler noch in einem ersten Lagebericht dreiste Manipulationen der iranischen Seite an der Absturzstelle beklagt. Bulldozer hätten die größeren Kabinenreste bereits weggeschafft und dabei zusätzlich beschädigt. Hunderte von Personen, zum Teil in Zivil und zum Teil in Uniform, sammelten kleinere Trümmerteile auf und trügen sie weg, ohne dass dies irgendjemand kontrolliere. Auch weigere sich die iranische Seite, den Experten aus Kiew die Reste des Cockpits zu zeigen, hieß es in dem Bericht, der über die ukrainische Nachrichten-Website censor.net verbreitet wurde.
Die gescheiterte Vertuschung schadet vor allem den Revolutionären Garden, die sich wie ein Staat im Staate aufführen, enorme Privilegien besitzen und Regimegegner brutal unterdrücken. Präsident Rohani galt als eingeschworener Gegner des getöteten Top-Generals Ghassem Soleimani. Mehrmals kritisierte er öffentlich die übermächtige Rolle, die die Revolutionswächter in dem iranischen Staatssystem spielen.
Demos für Chameines Rücktritt
Die Garden kontrollieren ein gigantisches Wirtschaftsimperium, unterhalten sogar eigene Gefängnisse und eine eigene revolutionäre Justiz, die keinerlei Kontrolle durch ordentliche Gerichte unterliegt. Auch in der iranischen Bevölkerung, die noch Anfang der Woche in Teheran, Maschhad und Kerman zu Hunderttausenden den von den USA hingerichteten Soleimani öffentlich betrauert hatten, herrschte am Samstag Unverständnis und Empörung über das unwürdige Taktieren des Regimes. „Ich schäme mich so, ich würde am liebsten sterben“, twitterte ein bekannter Reformpolitiker. Am Samstagabend löste das späte Geständnis des Mullah-Regimes wütende Proteste im Iran aus, auf Twitter wurde auch ein Video verbreitet, auf dem Demonstranten den Rücktritt Khameneis forderten.
unserem Korrespondenten Martin Gehlen