Die Angehörigen im Iran, in Kanada und in der Ukraine stehen unter Schock. In Kiew, Ottawa und Toronto trauern Hunderte Menschen gemeinsam und zünden Kerzen für die 176 Opfer an. Das Regime in Teheran dagegen mauert. Es weist alle Schuld von sich, spricht von einer westlichen Verschwörung und „psychologischer Kriegsführung des Pentagons“. Es sei definitiv ausgeschlossen, so der Chef der iranischen Luftfahrtbehörde, Ali Abedzadeh, dass die Boeing 737-800 der Ukraine International Airlines kurz nach dem Start in Teheran abgeschossen wurde.
Westliche Militärs und Geheimdienste gehen nach der Auswertung von Satellitenaufnahmen und abgehörtem Funkverkehr „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ davon aus, dass zwei Raketen die Maschine trafen. Auf einem Handyvideo, das das Flugzeug mit der Kennung PS 752 zeigen soll, ist Sekunden vor dem Absturz ein kurzer Feuerschein am Nachthimmel zu sehen. In den sozialen Medien kursieren Fotos vom Unglücksort mit Resten einer russischen SA-15-Rakete, wie sie der Iran seit 2006 besitzt und bei seinen Militärparaden vorführt.
Dem Iran droht der nächste internationale Konflikt
Auch wenn das tödliche Fiasko am Imam-Khomeini-Flughafen wahrscheinlich nicht mit Absicht passiert ist, für den Iran könnte sich daraus die nächste heikle außenpolitische Konfrontation entwickeln. Alles wird davon abhängen, ob das Regime eine transparente internationale Untersuchung des Absturzes zulässt oder versuchen wird, die Abläufe zu manipulieren. Flugschreiber und Stimmenrekorder seien geborgen worden, aber beschädigt, hieß es in Teheran. Man werde zunächst allein die aufgezeichneten Daten und Cockpitgespräche extrahieren und auswerten, was ein bis zwei Monate dauern könne, kündigte die nationale Luftverkehrsbehörde an.
Entsprechend groß ist das internationale Misstrauen. Die EU verlangte von Teheran eine „unabhängige und glaubwürdige“ Untersuchung nach den Regeln der Internationalen Zivilluftfahrt Organisation (ICAO). Doch dabei steckt der Teufel im Detail. Im Prinzip ist der Iran federführend, weil das Unglück auf seinem Staatsgebiet passierte. Das Regime muss Ermittler aus der Ukraine beteiligen, wo Flugzeug und Fluggesellschaft registriert sind. Und es muss Experten aus USA und Frankreich zulassen, weil dort Boeing und Triebwerke gebaut wurden. Kanadische Emissäre haben ebenfalls das Recht, die Unfallstelle zu besuchen und in beschränktem Maße Einblick in die Akten zu nehmen, weil 63 der getöteten Passagiere Kanadier iranischer Abstammung waren.
Wie kooperativ sich Teheran verhalten wird, ist unklar. Aus Kiew und Ottawa trafen am Freitag erste Fachleute ein. Auch ein Vertreter der amerikanischen Nationalen Behörde für Transportsicherheit (NTSB) soll eine Einreiseerlaubnis bekommen, ebenso wie Unfallspezialisten der renommierten französischen Untersuchungsbehörde für Flugunfälle (BEA).
Der US-Botschafter in Kiew übergab indes dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj „wichtige Daten“. Die Raketenversion sei nicht ausgeschlossen, aber auch nicht bestätigt, schrieb der ukrainische Staatschef auf Facebook. „Unser Ziel ist, die eindeutige Wahrheit herauszufinden. Der Wert des menschlichen Lebens steht über allen politischen Motiven.“ Die ukrainische Seite hält nach wie vor auch den Zusammenstoß mit einer Drohne, einen Terroranschlag oder eine Triebwerksexplosion als Unfallursache für denkbar.
AUA streicht Flüge nach Teheran
Eine Reihe ausländischer Fluggesellschaften strich Teheran nach dem Unglück vorerst aus ihren Flugplänen. Sie wiesen ihre Piloten an, den Luftraum über Irak, Iran und der Golfregion zu meiden. Ein Airbus 320 der Austrian Airlines auf dem Weg nach Teheran erhielt am Freitag über Sofia die Anweisung, umzukehren und nach Wien zurückzufliegen. Bis 20. Jänner sind alle AUA-Flüge in die iranische Hauptstadt ausgesetzt.
In der Unglücksnacht hatten Revolutionäre Garden der Islamischen Republik als Vergeltung für die gezielte Tötung des Top-Generals Qasem Soleimani zwei Militärbasen im Irak, auf denen amerikanische Soldaten stationiert sind, mit ballistischen Raketen beschossen. Aus Furcht vor einem US-Gegenschlag waren in Teheran alle Flugabwehrbatterien in höchster Alarmbereitschaft. Viele Iraner kritisierten in den sozialen Medien, dass während dieser dramatischen Stunden der zivile Flugbetrieb auf dem Imam-Khomeini-Flughafen ganz normal weiterging.
unserem Korrespondenten Martin Gehlen