Ungefähr ein Drittel jener Menschen, denen sie heute auf unseren Straßen begegnen, war am 1. Jänner 1995 noch nicht geboren. Für sie gab es kein Leben in einem Österreich, das sich nicht auch als Teil der Europäischen Union versteht.
25 Jahre sind eine lange Zeit. Das ist etwa jener Zeitraum, der zwischen dem Ausbruch des Ersten und des Zweiten Weltkriegs gelegen ist, ein Zeitraum, in dem für die damals hier Lebenden Weltbilder und Wertvorstellungen, Staatsgrenzen und Regierungsformen mehrfach radikal verändert worden waren. Da mutet das letzte Jahrhundertviertel mit seinen politischen Entwicklungen geradezu langsam an: Vor 25 Jahren wurde Waltraud Klasnic Landeshauptmann der Steiermark und Hermann Schützenhöfer Landesrat. In Kärnten kam man am 1991 abgewählten Landeshauptmann Jörg Haider politisch kaum vorbei. Niki Laudas Rennfahrerkarriere war schon ein Jahrzehnt vorbei und Hermann Maier scharrte gerade in den Startlöchern für seinen ein Jahr später erfolgten Durchbruch.
Und 25 Jahre ist nun Österreich Mitglied in der EU. Auf unseren Reisepässen steht heute an erster Stelle die Europäische Union, erst in der zweiten Zeile folgt „Republik Österreich“. Aber in der Selbstdefinition der meisten Menschen ist diese Hierarchie wohl umgekehrt, und die emotionale Zugehörigkeit richtet sich eher hin zu kleineren Einheiten, etwa zum jeweiligen Bundesland. Dennoch, die EU ist breit akzeptiert, eine Austrittspartei bekäme in Österreich nur eine Zustimmung im einstelligen Prozentbereich.
Das bedeutet, die Vorteile, die die Zugehörigkeit zur EU bringt, überwiegen in den Augen der überwältigenden Mehrheit die Nachteile. Die Zweckgemeinschaft ist also akzeptiert, aber sagen neben den Hirnen auch die Herzen Ja zu Europa?
Dass das Zusammenwachsen Europas das entscheidende Friedensprojekt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, das der „goldenen Generation“ ein Leben ermöglichte, von dem die früheren Generationen nur träumen konnten, ist für die heutige Jugend kein gewichtiges Argument mehr. Ein Europa der Verständigung und des Miteinander als notwendiger Gegenentwurf zu Auschwitz war für die Generation der Gründerväter und -mütter ein Muss. Als Kinder saßen wir noch im Schulhof zusammen und rechneten, wie viele Jahre es keinen Krieg geben durfte, bis wir ein Alter erreicht hätten, in dem wir einem etwaigen Kriegseinsatz entgehen. Krieg, das war in den Fünfzigerjahren noch als Möglichkeit in unseren jungen Köpfen, dazu haben auch die Erzählungen der Elterngeneration ihren nicht immer positiven Beitrag geleistet.
Frieden ist inzwischen selbstverständlich geworden, zumindest hier bei uns. Dafür zählen heute als Argumente für ein geeintes Europa die Mobilitätsmöglichkeiten, der freie Warenverkehr und die Austauschprogramme für Studierende. Aber das sind Vorteile, die sozial ungleich ankommen. Klar, es ist toll, beim Studium von Graz nach Helsinki, Amsterdam oder Granada wechseln zu können, und es ist auch angenehm, in Tarvis die in Italien gekauften Weinflaschen nicht ängstlich vor den Zöllnern verbergen zu müssen. Wenn man aber nicht studiert, wenig Gelegenheit für Urlaubsreisen hat und im Supermarkt nicht nach dem Balsamicoessig aus Modena greift, was erreicht dann von den Vorteilen der EU den Einzelnen? Was sollte auch jene zu glühenden Pro-Europäern machen, die für ihr Leben keine unmittelbaren Vorteile aus der Gemeinschaft erkennen können?
Es ist der EU in all den Jahren nur mangelhaft gelungen, die Kluft zwischen Arm und Reich zu verringern, die Modernisierungsverlierer mit ins Boot zu holen und ihnen das Gefühl der echten Zugehörigkeit zu vermitteln. Die Hoffnungen von Menschen aus etlichen neueren Beitrittsstaaten blieben bislang unerfüllt. Noch heute fahren zwei Frauen aus Rumänien abwechselnd alle drei Wochen zu meiner Schwiegermutter nach Vorarlberg, um die inzwischen gänzlich hilflose Frau 24 Stunden am Tag zu pflegen. Die Frauen fahren dafür etwa 1200 km in jede Richtung, lassen ihre Familien zurück und verdienen hier ihren kargen Lohn mit einer Tätigkeit, für die heimische Arbeitskräfte nicht zu finden sind. Aber auch sie sind Europäerinnen, haben einen Pass der EU und sind zumindest theoretisch mit den gleichen Rechten ausgestattet wie wir alle.
Der Weg zu einer echten Sozialunion ist noch ein sehr weiter. Daher wird die EU, werden die Bürokraten in Brüssel, vielfach als kalte Technokraten wahrgenommen. Das Bilden solidarischer Gemeinschaften wird an die einzelnen Mitgliedsstaaten delegiert und wird dort oft nur mit nationalistischen Untertönen umgesetzt. Trotz Transferzahlungen (die oftmals intransparent versickern), trotz Rettungsschirmen, es sind sehr viele Hoffnungen, die an Europa geknüpft worden waren, bislang unerfüllt geblieben.
Die EU kann auf keine große Erzählung bauen
Die EU hat eine wunderbare Hymne und eine ansprechende Fahne. Diese verliert zwar gerade ihren 28. Stern, ist aber dennoch ein schönes Symbol der formalen Gleichwertigkeit der Mitgliedsstaaten. An einem emotionalen Wir-Gefühl, an einem Mitfiebern, wenn sich Europa etwa sportlich beim Golf oder Tennis mit anderen Weltregionen misst, mangelt es derzeit aber augenscheinlich. Vielleicht ist es ein Zeichen von Modernität, dass die EU nicht auf eine große Erzählung (die ja in manchen Nationalstaaten auf Fiktionen aufbaut) setzen kann und will, dass Europa ein Produkt der Aufklärung und der Vernunft und nicht der Gefühle des Ein- und Ausgrenzens ist, aber ein wenig Wärme und auch Stolz auf unseren Kontinent würden das Fundament stärken.
Ich selbst bin ein überzeugter Europäer der ersten Stunde. Wissenschaftlich sozialisiert in einem Milieu der zurückgekehrten Emigration waren Grenzüberschreitungen als unbedingte Notwendigkeit im Beruf für mich ein klarer Sachverhalt. Als Rektor der Karl-Franzens-Universität im EU-Beitrittsjahr Österreichs konnte ich damals nicht nur die Türen für junge Menschen aus den Kriegsgebieten am Balkan öffnen, sondern von Beginn an an europäischen Programmen wie dem bis heute wunderbar funktionierenden Erasmus-Austauschprogramm mitwirken.
Für die Menschen in meinem Umfeld, für die uns anvertrauten jungen Männer und Frauen, war der EU-Beitritt Österreichs die Eröffnung neuer Möglichkeiten, andere Sprachen, andere Wissenschaftskulturen und andere Lebensgewohnheiten kennenzulernen. Fast alle, die daran teilgenommen hatten, wurden entscheidend persönlich neu geprägt. Ich genieße es, wenn ich durch meine alten grünen Reisepässe blättere und die vielen Stempel und Visavermerke sehe, dass ich heute mit meinem roten Pass fast ungehindert durch den Kontinent fahren kann.
Das alles macht mich aber nicht blind für die Schwächen, die diese Europäische Union derzeit noch hat. Manches, was man an ihr kritisiert, soll wohl nur auf nationalstaatlicher Ebene vom Eigenversagen ablenken. Dennoch bleibt noch viel zu tun. Das Europa, auf das wir nach weiteren 25 Jahren zurückschauen werden – zumindest die, die das Jahr 2045 erleben dürfen –, sollte ein solidarisches, kulturell reiches, wirtschaftlich blühendes, politisch starkes und sinnvoll erweitertes (Westbalkan!) gemeinsames Europa sein.
Helmut Konrad