Die Unabhängigkeitsbewegung in Schottland steht nach Einschätzung des Ökonomen Iain Begg vor zahlreichen wirtschaftlichen Hürden. Schottland sei von England wirtschaftlich abhängig, sagte der Wirtschaftswissenschafter der London School of Economics (LSE) im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AFP.
"Der schottische Haushalt wird unterm Strich von London subventioniert", erklärte er. Die Einnahmen aus dem Nordsee-Öl sprudelten längst nicht mehr so kräftig wie noch vor einigen Jahren. Der wichtigste Exportmarkt für schottische Güter sei nicht die EU, sondern England. Zudem wolle die Schottische Nationalpartei (SNP) von Regierungschefin Nicola Sturgeon das britische Pfund behalten, was nach einer Unabhängigkeit ein geldpolitisches Problem bedeuten würde.
Und auch wenn die Schotten optimistisch seien, dass sie nach der Unabhängigkeit schnell in die EU zurückkehren könnten, würde ein Beitrittsprozess nach Beggs Einschätzung Jahre dauern - "zumal Brüssel mit Blick auf die Separatisten in Flandern und Katalonien den Eindruck vermeiden möchte, Unabhängigkeitsbestrebungen gegenüber positiv gesinnt zu sein".
Wie es mit Schottland weitergeht, hänge auch vom Fortgang des Brexit ab, sagte Begg. "Schottland könnte eine Sonderlösung ähnlich wie Nordirland einfordern." Das Austrittsabkommen sieht vor, dass Nordirland de facto in einer Zollunion mit der EU verbleibt. Allerdings sei die Zeit zu knapp, um diese Regelung auch auf Schottland auszuweiten.
Sturgeon strebt ein weiteres Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands an, was aber die konservative britische Regierung unter Premierminister Boris Johnson verweigert. Ein Referendum komplett gegen den Willen Londons schließt Sturgeon bisher aus - "vielleicht schreckt sie das Chaos in Katalonien ab", sagte Begg.
Zwar könne sie sich die Erlaubnis des obersten britischen Gerichts einholen und das Referendum ohne Johnsons Segen abhalten - "das ist aber verfassungsrechtliches Neuland". So werde der Konflikt zwischen Edinburgh und London auf absehbare Zeit wahrscheinlich erst einmal symbolisch geführt, sagte Begg.
Die SNP hatte bei der Parlamentswahl am 12. Dezember 48 von 59 Wahlkreisen in Schottland gewonnen und damit ihre Präsenz in Westminster ausgebaut, während Johnsons Konservative die absolute Mehrheit im britischen Parlament gewannen. 2014 hatten sich die Schotten mit 55 zu 45 Prozent gegen die Unabhängigkeit ausgesprochen. Sturgeon glaubt aber, dass sich die Situation durch den Brexit geändert habe, weil die Mehrheit der Schotten beim Brexit-Votum 2016 gegen den Austritt aus der EU gestimmt hat.
Begg, der selbst Schotte ist, sieht das anders: "Die SNP hat bei der aktuellen Wahl nur 45 Prozent der schottischen Stimmen geholt", sagt er. Von einer neuen Mehrheit für die Unabhängigkeit könne deshalb keine Rede sein.