Der frühere Bundeskanzler, Wirtschafts- und Außenminister Wolfgang Schüssel (ÖVP) ist sich sicher, dass die EU heute noch mehr Unterstützung der Österreicher als damals hätte. Im APA-Interview aus Anlass des 25. Jahrestages von Österreichs EU-Beitritt am 1. Jänner 1995 spricht er über die damaligen Sanktionen der EU-14 gegen seine ÖVP-FPÖ-Regierung und welche Herausforderungen er heute für die Gemeinschaft sieht.
Sie haben einmal gesagt, Helmut Kohl war ein Freund Österreichs bei den Beitrittsverhandlungen? Und Frankreich war nicht für Österreichs EU-Beitritt?
WOLFGANG SCHÜSSEL: Wir haben einige wirkliche Freunde gehabt. Wen man unbedingt erwähnen muss, ist Willy Claes, der belgische Außenminister, später NATO-Generalsekretär. Helmut Kohl ist besonders zu erwähnen. Die Franzosen waren von vornherein sehr, sehr kühl und haben uns noch die kalte Schulter gezeigt, bis zum Schluss bei der großen Feierlichkeit. Die zwei Stühle Frankreichs waren nicht besetzt, sowohl der Europaminister (Alain) Lamassoure, was ich noch verstanden hätte, aber nicht einmal der Ständige Vertreter Frankreichs hat an dieser Schlussfeier teilgenommen, was schon ein Signal gewesen ist.
Warum eigentlich?
Wir wussten im Vorfeld, dass der damalige Französische Präsident Francois Mitterrand erst beim dritten Mal Helmut Kohl nachgegeben und gesagt hat, weil die Deutschen gar so Druck machten, werde er dem Beitritt des 'dritten deutschen Staates' nichts mehr in den Weg legen. Alois Mock hat wirklich alles unternommen, um die Franzosen positiv zu stimmen. Aber es war ihm während der Verhandlungen nicht einmal möglich, den damaligen Premierminister Chirac zu erreichen. Er hat sich telefonisch verleugnen lassen. Es war schon sehr bezeichnend, dass die Franzosen uns sehr kühl behandelt haben. Und das hat sich lange gehalten.
Sie sprechen die Sanktionen im Jahr 2000 an?
Nein, ich habe auch später gemeint. Ich bin ja selber von den Franzosen zwei Mal blockiert worden. Als Kandidat für den Kommissionspräsidenten und später für den Ratspräsidenten. Aber das ist okay, das gehört dazu. Da hat es andere gute Kandidaten gegeben, das ist ein sportlicher Wettbewerb.
Wo stünden wir heute ohne EU-Beitritt?
Das kann man nicht sagen, weil es dafür kein Beispiel gibt. Wir wären jedenfalls im EWR, so wie die Norweger auch. Das heißt, wir hätten zwar politisch nichts mitzureden, hätten aber 70 Prozent der wirtschaftlichen Vorteile, müssten aber auch mit einzahlen und wären in vielen Bereichen wie Regionalförderung und Landwirtschaft nicht drinnen. Das wäre für unsere Bauern eine sehr unangenehme Situation geworden.
Wäre eine Zweidrittelmehrheit in einer EU-Volksabstimmung in Österreich noch einmal zu erzielen?
Sogar ein deutlich stärkeres Ergebnis. Damals hat ein Drittel den EU-Beitritt abgelehnt. Wenn Sie heute fragen, ob wir austreten sollen, sagen das nie mehr als zwanzig Prozent. Die Bilanz ist ja gewaltig: 700.000 zusätzliche Arbeitsplätze, vierfache Exporte, die Auslandsinvestitionen nach Österreich haben sich verzehnfacht, die österreichischen Auslandsinvestitionen vor allem in den Nachbarstaaten haben sich verzwanzigfacht.
Juncker hat gesagt, Österreich müsse seine Rolle in der EU klären. Gibt es heute noch Bedarf an einer Brückenfunktion Österreichs?
Jean-Claude Juncker liebt es, kleine Sticheleien zu verteilen. Wir brauchen weder von Freunden noch von distanzierten Begleitern Belehrungen. Österreich ist ein Kernland dieser Europäischen Union. Unsere Nachbarländer haben einen gewaltigen Entwicklungssprung seit dem EU-Beitritt gemacht. Wir schauen sehr genau, dass das funktioniert und sehen aber auch manche Defizite. Zum Beispiel, dass wir alle übersehen haben, dass eine gewaltige Entvölkerung in Mittel- und Osteuropa stattgefunden hat. Seit den Beitritten 2004 hat diese Region 15 bis 17 Millionen Menschen quasi nach Westeuropa abgegeben. Österreich allein hat ungefähr 800.000 Menschen aus diesen mittel- und osteuropäischen Ländern aufgenommen. Und diese Zuwanderung hat uns ja wirklich sehr viel gebracht. Da sind hervorragend ausgebildete Menschen zu uns gekommen. Es ist ein bisschen übersehen worden, hier gegenzusteuern durch Infrastrukturinvestitionen. Was mich schon stört: Es wird sehr viel über diese Länder geredet und zu wenig mit ihnen geredet. Man sollte schon auch ein bisschen Empathie für diese Region aufbringen.
Wie schauen Sie rückblickend auf das Jahr 2000, die Koalition mit der Haider-FPÖ? Sehen Sie sich als Eisbrecher für die Einbindung der Rechtspopulisten?
Erstens einmal ist das für mich Geschichte. Wir hatten ein fertig verhandeltes Koalitionsabkommen mit der SPÖ. Dieses fix und fertig ausverhandelte Papier ist im Parteivorstand der SPÖ abgelehnt worden. Daraufhin haben wir als einzige mögliche Alternative mit den Freiheitlichen verhandelt und haben sieben Jahre eine Koalition gebildet. Das ist weder ein Role Model, noch ein Vorreiter, noch ein Eisbrecher, sondern es war die einzige Möglichkeit damals, und die hat auch gut funktioniert. Ich habe mich 2003 sehr bemüht, mit den Grünen eine Koalition zu bilden, die damals an der grünen Basis gescheitert ist, nicht an der grünen Führung. Alexander Van der Bellen und Eva Glawischnig waren sehr dafür, ich auch. Aber das war halt damals so, heute ist das hoffentlich anders.
Kann die EU die Rechtsstaatskonflikte mit Ungarn und Polen in den Griff bekommen?
Erstens einmal ist das überhaupt nicht vergleichbar, weil damals, bevor die Regierung überhaupt gebildet wurde, die 14 anderen Mitgliedstaaten Maßnahmen oder Sanktionen gegen uns gesetzt haben. Das war präventiv. Sie wollten damit eine demokratisch legitimierte Regierung verhindern. Das ist zurecht mit einer krachenden Bauchflecklandung geendet. Und daraus wurden auch Lehren gezogen. Heute gibt es ganz konkrete Verfahren, die führen auch in der Regel zu vernünftigen Ergebnissen.
Die Sanktionen der EU-14 wurden durch einen Weisenrat beendet. Sie wurden nach der FIDESZ-Suspendierung von der EVP in einen Weisenrat berufen. Ist das für Sie eine Genugtuung?
Ich wurde gebeten, hier mitzutun, gemeinsam mit Hans-Gert Pöttering und Herman Van Rompuy, und da kann man sich nicht verweigern. Das ist weder Genugtuung noch sonst etwas, das ist eine Arbeit.
Die Aktivität der EU-Kommission ist deutlich geringer geworden, wohin entwickelt sich die EU?
Es wäre absurd zu glauben, dass die Qualität einer Kommission daran zu messen ist, wie viele Vorschläge, Direktiven und Initiativen sie setzt. Am Ende landen wir dann bei einer komplett zentralisierten Einrichtung, wo alles bis ins Detail von Brüssel aus vorgegeben wird. Die Europäische Union ist eben genau das nicht. Die ganze Zeit wird an großen Themen wie Digitalisierung und Green Deal gearbeitet.
Von der Leyen hat gesagt, die EU muss lernen, die Sprache der Macht zu sprechen?
Das ist eine rhetorische Floskel, aber es ist eine gute Ansage.
Sie will neue Akzente in der Verteidigungspolitik setzen. Ist die Neutralität überholt?
Das kann man ja im Rahmen der heutigen Verträge alles machen. Und einige Themen hat ja auch Juncker schon begonnen, mit dem Verteidigungsfonds, wo Rüstung und Forschung kooperieren. Mein Thema war immer: Warum muss ein mittleres Land wie Österreich seine eigene Luftraumverteidigung machen? Warum machen wir das nicht in einem Verbund? Aber dann muss man auch den Mut haben, B zu sagen. Dann kann man nicht sagen, wir scheuen aus Neutralitätsgründen vor jeder Kooperation zurück. Wir haben die Verfassung bei unserem EU-Beitritt so geändert, dass wir jedenfalls an jeder europäischen Initiative teilnehmen können, UNO, OSZE oder EU. Diese drei Ausnahmen von der Neutralität gibt es. Verfassungsrechtlich sind wir gut aufgestellt.
Geht es mit dem Erstarken von Nationalismus und Rechtspopulismus nicht gegen mehr Gemeinsamkeiten?
Erstmals sollten wir nicht immer nur von Rechtspopulisten reden. Syriza war Linkspopulismus pur. Was bei uns zum Handelsabkommen mit Kanada diskutiert wurde, war Populismus pur. Das ist Gott sei Dank daneben gegangen. Jetzt fängt das gleiche an mit Mercosur. Ich finde ja gut, dass manchmal Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nach vor schießt und zwanzig Feuerwerke gleichzeitig abbrennt. Aber das Follow-up im politischen europäischen Diskurs fehlt.
Macron hat ja bei Erweiterung und Spitzenkandidaten zuletzt blockiert.
Ich war nie ein Freund des Spitzenkandidaten-Modells. Im Vertrag steht nicht drinnen, dass die Parlamentarier einen Vorschlag machen und der Rat das brav zu apportieren hat. Das Ergebnis (mit Von der Leyen als neuer EU-Kommissionspräsidentin) ist hervorragend geworden, da bin ich voll bei Macron. Ursula von der Leyen hat alleine mit ihren Auftritten jetzt schon wesentlich mehr frischen Wind und Energie in die europapolitische Debatte hineingebracht. Bei der Erweiterung schmerzt mich natürlich, dass man Nordmazedonien ein paar Monate aufgeschoben hat. Aber ich verstehe schon Macron. Seine Bedenken hat er ja immer wieder thematisiert, ohne eine besondere Resonanz zu finden. Jetzt hat er einen Vorschlag auf den Tisch gelegt, den ich sehr interessant finde. Ich finde schon, dass man den Beitrittsprozess im Lichte der Erfahrungen verbessern kann. Wichtig wäre, dass man das so weit außer Streit stellt, dass man im Frühjahr mit Nordmazedonien beginnen kann.
Was war für sie der prägendste Moment?
Für uns war es eigentlich eher 1989 - Ostöffnung und Beitrittsansuchen. Eigentlich sind für uns zwei Fenster aufgegangen in der Geschichte, erstens der EU-Beitritt und die Erweiterung der Europäischen Union, der Fall des Eisernen Vorhangs. Früher waren wir Randlage - das östlichste Land des Westens oder das westlichste Land des Ostens - und auf einmal sind wir mitten im Herzen Europas gelandet, und alles war offen. Das ist der heutige Öster-Reichtum geworden. Das ist für mich unglaublich, ein ungeheures Glück, dass ich das erleben und auch ein bisschen daran mitwirken konnte.