Am Tag nach der Wahl, kurz nach sieben Uhr früh, erlaubte sich Boris Johnson ein Späßchen. Zum Ende seiner Ansprache vor Anhängern wiederholte er den Slogan, der ihm zum Sieg verholfen hatte. „Let’s get Brexit done“, bringen wir den Brexit hinter uns, rief er gut gelaunt in die Runde. Zuerst sei’s aber Zeit für ein gutes Frühstück: „First of all – let’s get breakfast done.“
Gelächter im Saal. So locker hat man Johnson schon lange nicht gesehen. An der Wand hinter ihm hatte sein Team ein Schild angebracht, das verdeutlichen sollte, wie todernst es Johnson ist. „The People’s Government“, hieß es auf der Tafel. Johnson tritt als Chef einer britischen „Volksregierung“ an.
Dabei hatte die Hälfte des Landes für andere Parteien gestimmt. Doch der Premier wollte „all denen, die uns gewählt haben“, eine spezifische Botschaft übermitteln. Endlich sei der Weg frei für den EU-Austritt, sagte er. Endlich sei „Schluss mit der üblen Drohung mit einem zweiten Referendum“. Es sei Zeit für die Pro-Europäer, „die Klappe zu halten“.
„Der britische Löwe hat für Boris und Brexit gebrüllt“
All jenen, die gegen Johnson und die Tories gestimmt hatten, stand zu diesem Zeitpunkt der Schock ins Gesicht geschrieben. Tagelang hatten die Umfragen ein anderes Ergebnis für möglich erklärt. Der Labourwohlgesonnene „Daily Mirror“ ächzte, man habe es mit einem „Nightmare before Christmas“, mit einem vorweihnachtlichen Albtraum, zu tun. Die konservative Presse sah das natürlich anders. „Lasst den Lobgesang hören!“, stimmte die „Daily Mail“ ihre Leser auf die Festtage ein. „Der britische Löwe hat für Boris und Brexit gebrüllt“, schrieb der „Daily Express“ zufrieden.
Tatsächlich hat Johnson für die Tories den größten Sieg seit den Zeiten der „Eisernen Lady“ Margaret Thatcher in den 1980ern errungen. Die Liberaldemokraten stagnierten. Labour fuhr das schlechteste Resultat seit dem Zweiten Weltkrieg ein.
Dass es so kommen würde, war schon mit dem Zehn-Uhr-Schlag von Big Ben bei Schließung der Wahllokale am Vorabend klar. Entgeistert starrten Labour-Wähler, Liberaldemokraten und Grüne auf die Exit Polls, von denen die ganze Nation augenblicklich wusste, dass sie richtiglagen. 368 Sitze gab diese frühe Voraussage Johnsons Tories. Am Ende sollten es nur drei weniger sein. Das sind weit mehr als die 320 Mandate, die der Premier für eine Mehrheit im House of Commons braucht. Nicht einmal auf Nordirlands Unionisten ist er mehr angewiesen. Von nun an werden die Tory-Parlamentarier kaum Platz finden auf den Regierungsbänken im Unterhaus.
Der dramatische Niedergang der Labour Party
Ungläubig verfolgten Oppositionspolitiker in der Nacht den Verfall Labours. Im alten Industriegürtel Nordenglands, der Midlands und der walisischen Täler bröckelte ein Wahlkreis nach dem anderen ab und brach aus dem „roten Wall“ der bislang für uneinnehmbar gehaltenen Labour-Hochburgen.
Alte Berg- und Stahlarbeiter-Gemeinden sowie Fischereihäfen wie Great Grimsby fielen an die Konservativen. Erst kapitulierte der seit Urzeiten tiefrote Wahlkreis Blyth Valley in Northumberland. Dann eroberten die Tories ein Stück der „roten Mauer“ nach dem anderen. Als der Labour-Veteran Dennis Skinner seinen seit fast 50 Jahren gehaltenen Wahlkreis Bolsover verlor, hatte Johnson gerade die Mehrheitsmarke überschritten. Überlebende des „Massakers“ im Labour-Lager, wie die BirminghamerAbgeordnete Jess Phillips, schüttelten verzweifelt die Köpfe. „Herzzerreißend“ finde sie das, sagte Phillips. Die historische Niederlage führte prompt zu Rücktrittsaufforderungen an den Parteichef. „Corbyn war eine Katastrophe“, sagte der frühere Innenminister Alan Johnson. „Jeder wusste, dass er die Arbeiterklasse nicht einmal aus einem Papiersack befreien kann.“ Corbyn selbst erklärte, er würde Labour zwar in keine künftigen Wahlen mehr führen, bleibe noch im Amt, um die Wahl des nächsten Labour-Vorsitzenden zu „überwachen“.
Doch auch kein einziger der von Johnson aus der Tory-Partei geworfenen Rebellen konnte seinen Sitz retten. Die Liberaldemokraten verloren sogar ihre Spitze. Parteichefin Jo Swinson wurde in Schottland von der dortigen Nationalpartei (SNP) vom Feld gekickt.
Schottische Nationalisten im Aufwind
Boris Johnsons Konservative sind freilich nicht die einzigen Sieger dieser Wahl. Im hohen Norden hat auch die Schottische Nationalpartei (SNP) allen Grund zu feiern. Von den 59 Unterhaus-Sitzen, die in Schottland vergeben werden, konnte sie 47 erobern – elf mehr, als sie sich bei der letzten Wahl 2017 gesichert hatte. Und sehr viel mehr, als eine andere Partei in Schottland vorweisen kann.
Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon zieht aus dem großen Zuspruch den Schluss, „dass wir über unsere eigene Zukunft die Entscheidungsfreiheit haben sollten“. Von „einer Tory-Regierung, die wir nicht gewählt haben, müssen wir uns nichts sagen lassen“. Und auf keinen Fall müsse man „als Nation ein Leben außerhalb der EU akzeptieren“.
Sturgeon will Johnson darum um grünes Licht für ein neues Schottland-Referendum bitten. Doch der schließt das aus. Der Wahlsieger will schleunigst „seinen“ Brexit durchsetzen. Noch vor Weihnachten soll das neue Unterhaus seinen Austrittsdeal gutheißen. Das Oberhaus soll dann vor Neujahr folgen. Bei einem dicht gedrängten parlamentarischen Programm könnte Großbritannien dann Ende Jänner die EU verlassen.
Peter Nonnenmacher aus London