Der britische Premierminister Boris Johnson hat bei der Unterhauswahl am Donnerstag offenbar das erhoffte klare Mandat für seinen EU-Austrittskurs bekommen. Laut einer nach Wahlschluss veröffentlichten Exit Poll der britischen Fernsehsender haben Johnsons Konservative eine deutliche absolute Mehrheit von 368 der 650 Sitze errungen. Die Labour Party muss sich demnach mit 191 Mandaten begnügen.
Die pro-europäischen Liberaldemokraten kamen laut der Exit Poll auf 13 Mandate und verpassten damit klar ihr Ziel, drittstärkste Kraft im Unterhaus zu werden. Diese Position konnte die Schottische Nationalpartei (SNP) behaupten, die mit 55 Mandaten fast alle Sitze in Schottland gewann. Die Grünen behielten ihren Sitz, die Brexit Party von EU-Gegner Nigel Farage ging leer aus.
Boris Johnson will sich offenbar nicht vorzeitig zum Sieger erklären. Er verbreitete am späten Donnerstagabend zwar das Ergebnis, begnügte sich aber mit allgemeinem Lob für die britische Demokratie: "Danke an jeden in unserem großartigen Land, der gewählt, freiwillig gearbeitet und kandidiert hat. Wir leben in der großartigsten Demokratie der Welt."
In einem E-Mail an Parteimitglieder zeigte Johnson freilich weniger Zurückhaltung. "Ich hoffe, ihr feiert heute Nacht!"
Historisches Ergebnis
Sollte sich die Prognose bestätigen, wäre es die größte Tory-Mehrheit seit mehr als drei Jahrzehnten. Zuletzt hatte die legendäre Premierministerin Margaret Thatcher im Jahr 1987 eine größere Mehrheit gewonnen. Bei der Wahl im Juni 2017 hatten die Konservativen ihre absolute Mehrheit überraschend verloren. Sie kamen damals auf 317 Mandate, Labour auf 262. Die Tories regieren das Vereinigte Königreich seit dem Jahr 2010, zunächst in einer Koalitionsregierung mit den Liberaldemokraten, ehe sie im Jahr 2015 - unter anderem mit dem Versprechen eines EU-Austrittsreferendums - eine knappe absolute Mehrheit errangen.
Es wäre "ein phänomenaler Sieg für die Konservativen", kommentierte der frühere Parlamentspräsident John Bercow die Exit-Poll-Ergebnisse im Fernsehsender Sky News. Führende Tory-Politiker waren jedoch in ersten Reaktionen vorsichtig. Es handle sich nur um eine Prognose, nicht um das tatsächliche Ergebnis, sagte etwa Innenministerin Priti Patel. Wenig überraschend kommentierte auch die Labour Party die Prognose zurückhaltend. "Wir stehen erst am Anfang einer sehr langen Nacht, und es ist zu früh, das Ergebnis zu verkünden", sagte ein Labour-Sprecher.
Labour-Schattenfinanzminister John McDonnell sagte, dass das Exit-Poll-Ergebnis "äußerst enttäuschend" sei. Es sei klar, dass es sich um eine "Brexit-Wahl" gehandelt habe, räumte er einen Erfolg der Strategie von Premierminister Johnson ein. Über die Zukunft von Parteichef Jeremy Corbyn werde nach Vorliegen der tatsächlichen Ergebnisse entschieden.
Johnson hatte die Wahl angesetzt, um seinen mit der Europäischen Union nachverhandelten Brexit-Deal durchs Parlament zu bringen. Dort hatte es zuvor monatelang weder eine Mehrheit für ein Austrittsabkommen noch eine Rücknahme des Brexit gegeben, sondern lediglich für mehrmalige Verschiebungen des Brexit-Datums.
Zweites Unabhängigkeitsreferendum in Schottland?
Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon hat sich besorgt über den prognostizierten Ausgang der Parlamentswahl in Großbritannien gezeigt. Das Ergebnis sei "bitter" für das Land, schrieb die EU-Befürworterin am Donnerstagabend auf Twitter.
Sturgeon freute sich über das starke Abschneiden ihrer Schottischen Nationalpartei SNP. Nach den Prognosen gewann die SNP 55 der 59 Wahlkreise in Schottland. Sturgeon dürfte das als Mandat für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum für den Landesteil deuten.
Hör-Feature: Wie es zum Brexit-Drama kam
Gestaltung: Manfred Neuper und Hubert Patterer
Produktion: David Knes