Die SPD will Hartz IV und somit die Agenda 2010 ihres früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder in zentralen Punkten überwinden. Dazu beschlossen die rund 600 Delegierten des SPD-Parteitags am Samstag in Berlin einmütig das Konzept für einen "neuen Sozialstaat". Sanktionen für Hartz-IV-Bezieher sollen deutlich entschärft werden. Bei der Vorstandwahl erhielten prominente Vertreter einen Dämpfer.
Laut dem von den Delegierten mit langem Applaus bejubelten Beschluss soll es kein Hartz IV mehr, sondern ein Bürgergeld mit weniger Sanktionsmöglichkeiten geben. In einem ersten Schritt soll ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem November umgesetzt werden, nach dem die Jobcenter die monatlichen Leistungen nicht stärker als um 30 Prozent kürzen dürfen. Das "sozioökonomische und soziokulturelle Existenzminium" soll nach dem neuen Sozialstaatskonzept gewahrt bleiben. Strengere Sanktionen für unter 25-Jährige und Kürzungen von Wohnkosten sollen abgeschafft werden.
Lebensleistung anerkennen
"Wir wollen Hartz IV hinter uns lassen", sagte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer. Mit ihrem Konzept wolle sich die Partei auch ein Stück weit von Dingen der Vergangenheit verabschieden. "Wir wollen Lebensleistung anerkennen", sagte Dreyer. "Wir wollen nicht, dass Menschen zu Bittstellern werden." Der deutsche Arbeitsminister Hubertus Heil erinnerte daran, dass die SPD unter ihrer früheren Chefin Andrea Nahles die Arbeit am neuen Sozialkurs begonnen habe: "Das ist ihr Vermächtnis."
Nach dem Karlsruher Urteil vom 5. November sind monatelange Minderungen um 60 Prozent der Hartz-IV-Leistungen oder mehr mit dem Grundgesetz unvereinbar. Der Deutschen Presse-Agentur sagte Heil: "Das ist eine Gelegenheit, in dieser Koalition das gesamte System bürgerfreundlicher zu machen und zu reformieren." In die Kosten der Unterkunft solle nicht mehr sanktioniert werden, kündigte er vor den Delegierten an. Laut Bundesagentur für Arbeit betreffen Sanktionen rund acht Prozent der Hartz-IV-Bezieher.
Mit der Forderung nach einem Arbeitslosengeld Q greift die SPD eine Idee aus dem Jahr 2017 wieder auf, mit der der damalige Kanzlerkandidat Martin Schulz Wahlkampf gemacht hatte: Bei einer Weiterbildungsmaßnahme kann Arbeitslosengeld verlängert werden - nun fordert die SPD maximal 36 Monate. Heute besteht insgesamt ein Anspruch auf 24 Monate Arbeitslosengeld ab einem Alter von 58 Jahren. Arbeitslosen will die SPD auch in anderen Fällen länger Arbeitslosengeld I gewähren.
Zudem soll laut SPD künftig ein Recht auf mobiles Arbeiten und Homeoffice gesetzlich verankert werden. Der Mindestlohn soll perspektivisch auf 12 Euro angehoben werden. Ferner soll es eine eigenständige Kindergrundsicherung geben, eine Bürgerversicherung in der Pflege und ein stabiles Rentenniveau.
Bei den Vorstandswahlen erlitten der bisherige Parteivize Ralf Stegner und Berlins Bürgermeister Michael Müller eine Niederlage. Beide fielen im ersten Wahlgang durch und traten dann nicht mehr an. Als sie dies verkündeten, ging jeweils ein Raunen durch den Saal. Außenminister Heiko Maas scheiterte im ersten Wahlgang, wurde aber im zweiten Wahlgang klar gewählt. Auch Familienministerin Franziska Giffey, Umweltministerin Svenja Schulze, Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke, der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius und der sächsische SPD-Chef Martin Dulig wurden gewählt. Nicht in das Gremium schaffte es der Außen-Staatsminister und Abgeordnete Niels Annen.
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil sieht Finanzminister Olaf Scholz unterdessen weiter als möglichen Kanzlerkandidaten. Scholz verfüge über eine große Anerkennung in der gesamten Gesellschaft, sagte Weil den Zeitungen der Funke Mediengruppe. "Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werden nicht nur von den Mitgliedern einer Partei gewählt", betonte Weil mit Blick auf das Ergebnis der Stichwahl. Scholz war mit seiner Teampartnerin Klara Geywitz den jetzigen Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans in einem Mitgliederentscheid unterlegen.
Nach dem Entscheid verlor die Partei einer Umfrage zufolge an Rückhalt. Die SPD sank im RTL/n-tv-"Trendbarometer" gegenüber der Vorwoche um drei Prozentpunkte auf elf Prozent und liegt damit hinter der AfD auf dem vierten Platz.