Eine harmonische Feier der Einigkeit wird das wohl nicht. Weit gefehlt. Wenn die Nato-Chefs heute in Watford bei London zusammenkommen, um den 70. Geburtstag des transatlantischen Bündnisses zu würdigen, muss man schon froh sein, wenn sie einander nicht an die Gurgel springen. Seit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron das Bündnis in einem Interview mit dem „Economist“ als „hirntot“ bezeichnet hat, gehen die Wogen hoch. Macron hatte offen und wiederholt die Alleingänge der USA und auch die Syrien-Offensive des Nato-Partners Türkei kritisiert.
Europa stehe sicherheitspolitisch am Abgrund, warnte er. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, auch nicht mundfaul, holte vergangene Woche zum verbalen Gegenschlag aus und riet Macron, er solle „seinen eigenen Hirntod überprüfen lassen“ – worauf Paris den türkischen Botschafter vorladen ließ. Braucht die Nato zum Geburtstag einen Arzt? Kindergärtner? Oder gar den Totengräber?
Tatsächlich verweist Macrons Diagnose, trotz der wenig diplomatischen Wortwahl, auf tiefe Gräben im transatlantischen Bündnis. In Nordsyrien hatte zuerst US-Präsident Donald Trump, ohne Koordination mit seinen Bündnispartnern in Europa, den Abzug der US-Truppen verkündet – und damit die mit den USA verbündeten Kurden im Stich gelassen. Der aktuelle Anlass hat Zweifel, man könne sich auf Washington als Verbündeten nicht mehr verlassen, auch in Europa erneut befeuert. Vor allem die Osteuropäer sind beunruhigt, weil sie die Nato aus Angst vor Russland als Überlebensgarantie betrachten.
Verteidigungsausgaben
Kein Wunder: Schon 2017 hatte Trump, der mit multinationalen Organisationen wenig am Hut hat, offengelassen, ob er an die Nato-Beistandspflicht nach Artikel 5 noch glaubt. „Ich weiß es nicht“, tönte der US-Präsident. Das alles vor dem Hintergrund des Streits um die Verteidigungsausgaben – Trump hatte den Europäern, vor allem Deutschland, immer wieder vorgehalten, zu wenig in den gemeinsamen Topf einzuzahlen.
„Der entscheidende Punkt hier ist, dass Unsicherheit um sich gegriffen hat – denn Sicherheitsallianzen wie die Nato leben ja davon, dass man darauf vertraut, dass man einander hilft“, erklärt Markus Kaim, Sicherheitsexperte des German Marshall Fund in Washington. „Allein dass dies in Zweifel gezogen wird, schwächt die Abschreckungsbotschaft und damit die Nato selbst.“
All dies befeuert in den europäischen Staatskanzleien die Diskussion um mehr strategische Autonomie, wie sie auch Macron gefordert hatte. Der Sicherheitsexperte ist dennoch skeptisch. „Das Ziel halte ich für sinnvoll“, sagt Kaim. Doch man müsse realistisch sein: Der nukleare Schutzschirm der USA sei auf absehbare Zeit nicht ersetzbar. Im Bereich der Verteidigung werde Europa abhängig bleiben. Die Kernfunktion der Nato, Artikel 5, der Schutz der politischen Souveränität und territorialen Integrität Europas, werde bei den USA verbleiben, weil die Europäer dazu allein nicht in der Lage seien. Dazu kommt: Die Anschaffungszyklen für eine europäische Armee belaufen sich auf 20 bis 25 Jahre.
Stärkere europäische Integration
Doch das eigentliche Problem sei gar nicht der notwendige Aufbau stärkerer militärischer Fähigkeiten: „Angenommen, man würde, wie einmal von der deutschen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer vorgeschlagen, einen europäischen Flugzeugträger anschaffen“, bringt er ein Beispiel. „Da stellt sich dann die Frage: Wer bezahlt das? Und wer setzt den dann in Gang?“ Es fehle an entsprechenden Entscheidungsstrukturen. „Dafür bräuchte es stärkere europäische Integration im Bereich der Verteidigung – und die liegt in Europa eindeutig nicht im Trend.“
Dennoch könne Europa in einigen Bereichen selbst aktiver werden: „Krisenmanagement, Umgang mit islamistischen Gruppen wie dem IS oder fragiler Staatlichkeit wie in Libyen: Zumindest in der europäischen Nachbarschaft wäre man als Ordnungsfaktor viel stärker gefragt.“
Die Nato sieht er derzeit in schlechter Verfassung. „Am Zerfallen, wie manche meinen, ist sie noch nicht.“ Zu glauben, die USA würden die Allianz verlassen wollen, sei übertrieben. „Das Totenglöckchen hätte ich geläutet, wenn Trump wirklich nicht zu den Feiern gekommen wäre – was eine Zeit lang tatsächlich im Raum stand“, so Kaim. Die USA hätten das transatlantische Bündnis auf politischer Ebene zwar abgewertet. Auf der militärisch-operativen Ebene sei es seit der Ukraine-Krise aber umgekehrt: „Da sehen wir sogar eine Aufwertung der Nato. Die Zahl der US-Soldaten in Europa sinkt nicht – sie steigt. Die Mittel, die die USA für die Abschreckungsinitiative in Mittel- und Osteuropa in die Hand genommen haben, sind gestiegen.“
Dass die Nato weiter bestehen bleibe, liege nicht zuletzt daran, dass vor allem die Europäer keine Alternative hätten – „solange es keine stärkere Integration gibt, sind sie an die Nato und die USA gebunden“, meint Markus Kaim.
Erdogan als Prüfstein
Und was ist mit der Türkei? Schließlich hat es sich auch Präsident Erdogan, dessen Armee die zweitgrößte der Nato darstellt, durch seine Offensive gegen die Kurden mit den europäischen Partnern verscherzt. Berlin, Paris und London schränkten ihre Waffenexporte an ihren Nato-Partner ein – der seine Waffenkäufe zuletzt ohnehin in Russland tätigte und offenbar mit dem Erwerb eigener Nuklearwaffen liebäugelt. Vertrauen sieht tatsächlich anders aus. Wird die Nato Erdogan, wenn er so weitermacht, nicht eines Tages hinauswerfen?
Auch hier winkt der Experte ab. „Ein Ausschluss der Türkei ist nicht möglich, das sieht der Vertrag einfach nicht vor“, so Kaim. Leichter sei es, wenn ein Mitglied von sich aus eigene Wege gehe – „es gibt aber im Moment keine Indikatoren dafür, dass die Türkei von sich aus aussteigen möchte“. Auf absehbare Zeit werde die Nato einfach damit zurechtkommen müssen, von Washington bis Istanbul einige sperrige Partner im Bunde zu haben.
Vor den Geburtstagsfeiern versuchte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg noch, die Wogen zu glätten. Zumindest bei den Finanzen sei die Lage besser als erwartet. Die Summe der Mehrausgaben der europäischen Partner sei 2019 gestiegen, den größten Teil dazu trage Deutschland bei. Man wird sehen, ob das reicht, um den Jähzornigen in Washington wieder stärker an die Allianz zu binden.
Und so wird der Jubiläumsgipfel wohl hauptsächlich damit beschäftigt sein, zu kaschieren, dass man sich zum Geburtstag keineswegs so einig ist, wie man es zumindest nach außen hin gern wäre.