Jetzt also Bolivien und Chile. Erst war es Ecuador, wo die Menschen gegen die Regierung aufstanden, jetzt geht die Bevölkerung in Chile auf die Barrikaden. Und in diesen Tagen muss man auch genau nach Bolivien schauen, wo es zwischen Gegnern und Anhängern des linken Staatschefs Evo Morales Streit um das Ergebnis der Präsidentenwahl gibt.

Zwei Menschen wurden gerade in der Oppositionshochburg Santa Cruz im Tiefland erschossen, während die Organisation Amerikanischer Staaten Stimme um Stimme der Wahl nachzählt. Die Frage ist, muss Morales in die Stichwahl oder hat er doch – so wie es amtlich heißt – schon in der ersten Runde gewonnen? Es wird also der Vorwurf des Wahlbetrugs erhoben.

Wer nicht liefert, wird abgewählt

In diesen Zeiten des Zorns in Lateinamerika stehen die Regierungen verschärft unter Beobachtung. Wer nicht liefert, wird abgewählt, so wie gerade der konservative Staatschef Mauricio Macri in Argentinien. Aber wie man in diesen Tagen sieht, geraten auch amtierende Regierungen schwer in Bedrängnis, wenn sie sich der Arroganz der Macht schuldig machen. Es kann der Verdacht der Wahlmanipulation sein wie in Bolivien, die gnadenlose Ausbeutung der Bevölkerung wie in Chile, der Erlass unpopulärer Maßnahmen wie Preiserhöhungen, um internationale Geldgeber zu befriedigen wie in Ecuador. Oder alles zusammen wie in Haiti.

Sozialer Protest bringt Regierungen in ganz Lateinamerika in Bedrängnis und manchmal ins Wanken. Und anders als die repressionserfahrenen Regime in Venezuela und Nicaragua wirken die Machthaber in Ecuador und Chile regelrecht verschreckt und lenken unter dem Druck der Straße ein. Chiles neoliberalem Staatschef Sebastián Piñera droht wegen des Repressionsexzesses sogar ein Amtsenthebungsverfahren.
Piñera hat sich ebenso wie Macri in Argentinien zudem der Überheblichkeit, Naivität, Klientelpolitik und Kritikunfähigkeit schuldig gemacht. Es sind in gewisser Weise Übel, die viele lateinamerikanische Machthaber eint, egal ob sie links oder rechts stehen.

Warnung

In Argentinien sollte es Alberto Fernández eine Warnung sein, der im Dezember sein Amt antritt. Er muss schnell den Hunger bekämpfen und die galoppierenden Preise in Zaum halten. Wenn er nicht innerhalb der ersten sechs Monate die drängendsten Probleme in den Griff bekommt, dann könnte ihm drohen, was gerade die Staatschefs in Chile und Bolivien erleben und der Präsident von Ecuador jüngst durchmachte: „Cacerolazos“, Topfschlagen.

Klingt harmlos, ist aber die Chiffre für die Unzufriedenheit der Menschen mit ihren Regierungen und dem Staat als solchem. Die Menschen gehen mit Töpfen, Pfannen und Löffeln auf die Straße und machen mächtig Lärm, um so ihren Protest zum Ausdruck zu bringen. Und wie man gerade in Chile, Bolivien und dem vergessenen Haiti sieht, schreckt die Bevölkerung auch immer weniger vor Steinen, Stöcken, Brandsätzen und scharfer Munition als Mittel des Protestes zurück.

Die Rebellion ist dabei in gewisser Weise entideologisiert. Piñera in Chile und Morales in Bolivien sind Exponenten rechter und linker Extreme in der Region – und sie haben den gleichen Stress mit ihren Landsleuten – einer Bevölkerung, die sich benutzt und missbraucht vorkommt, die das Gefühl hat, dass die Machthaber nur für die Eliten und nicht für das Volk regieren.

Amtsinhaber, die Recht beugen, um sich im Präsidentenpalast zu verewigen, oder Präsidenten, die ihr Land in ein neoliberales Kaufhaus verwandeln, in dem alle Dienstleistungen vom Strom über die Bildung und die Gesundheit nur dazu da sind, dass sich die Unternehmen bereichern. Die politischen und wirtschaftlichen Eliten Lateinamerikas seien von einer „erstaunlichen Gefühllosigkeit und Blindheit“, kritisiert der mexikanische Schriftsteller Antonio Ortuño.

Region der Ungleichheit

Lateinamerika ist noch immer die ungleichste Region auf der Welt. Unter den 650 Millionen Menschen gibt es die größten Habenichtse, aber eben auch einige der reichsten Menschen des Planeten. Zudem sind Gewalt und Korruption gleichsam konstituierende Merkmale der Länder zwischen Mexiko und Argentinien. Die heutigen Proteste in der Region haben ihre Ursache zum Gutteil darin, dass die Regierungen – ob links oder rechts – es nie verstanden haben, die vergangenen Jahre der boomenden (Rohstoff-)Wirtschaften dazu zu nutzen, diese lateinamerikanischen Krankheiten zu beseitigen. Im Gegenteil. Die Einkommensunterschiede in den Gesellschaften seien gestiegen und das Leben fast aller Menschen sei härter und entbehrungsreicher geworden, kritisiert Antonio Ortuño. Und so versagen in der Region nicht die Regierungen. Es versagen die Staaten.

Die Gefahr ist, dass sich die Menschen von demokratischen Alternativen abwenden und autoritäre Regime bevorzugen, die schnelle und einfache Lösungen für komplexe Probleme versprechen. Der rechtsradikale Jair Bolsonaro ist in Brasilien dafür das beste Beispiel. Aber diese Machthaber bieten nur scheinbar Lösungen an und gründen ihre Politik auf Ausgrenzung und Demokratieverachtung. An den Kern des Problems gehen auch sie nicht. Die Bevölkerung will gehört, einbezogen und verstanden werden. Und sie will besser leben, als es die Mehrheit der Menschen in Lateinamerika kann. Ein allzu berechtigter Wunsch.

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